Jan Söffner
Als ich das erste Mal von bislang zweien interviewt wurde, war ich 20 Jahre alt und Sänger einer ausgesprochen erfolglosen Rock-Band. Erfolglos war sie vielleicht wegen mir selbst – denn mein Talent hatte Grenzen. Aber dieser Verdacht kam mir erst viel später. Während eines überraschenderweise mit Publikum ausgestatteten Auftritts verließ ich bei einem Instrumentalstück die Bühne und wurde von einem Lokaljournalisten abgegriffen. Ich war augenblicklich sehr stolz, interviewt zu werden und erzählte grässliche Plattitüden. Der Interviewer merkte das nicht, denn dafür war er mit seinem eigenen Stolz, Musikjournalist zu sein und Rockstars zu interviewen zu sehr beschäftigt. Der Artikel, den er schrieb, trug den Titel „Rimbaud und Paganini in Endzeitlicher Finsternis“.
Interviews können sehr peinlich sein. Viele der gegenwärtigen Strategien, Interviews vorzubereiten, sie zu führen und sie zu redigieren, versuchen die Peinlichkeitsdrohung zu vermeiden. So können Interviewer etwa ein Selbstverständnis entwickeln oder eingetrichtert bekommen, sie seien nur da, um ihr Gegenüber ‚zum Reden zu bringen‘ –von einem solchen Selbstverständnis zeugt auch die Praxis, gefilmte Interviews so zusammenzuschneiden als seien sie eigentlich Monologe gewesen. Umgekehrt können Interviewte Methoden entwickeln, den leeren Raum zwischen Frage und Antwort mit Sätzen zu füllen, die so erwartbar oder nichtssagend oder unverständlich sind, dass kein Mensch sie sich je merken wird. Oder beide Dialogpartner überbieten sich darin zu zeigen, dass sie jeweils noch ein bisschen mehr wissen als der andere – dann tun sie so, als ob das Interview eine Wissensangelegenheit wäre: Eine Art dialogisiertes Trivial Pursuit.
Solche Peinlichkeitsvermeidungsstrategien nehmen der Gattung Interview sehr viel von dem, was man ihr dramatisches Potential nennen könnte. Das Wort „dramatisch“ verwende ich hier, da u.a. Max Goldt mit Dialogen wie der „Radiotrinkerin“ oder dem „Krieg der Mädchenschweigekreise“ die beiden Gattungen zusammengeführt und Kurz-Dramen in Interviewform geschrieben hat. Wie man an diesen Texten sieht, entfaltet sich die Dramatik in der Inkongruenz von Haltungen oder Gewohnheiten. Sie folgt daraus, wie der Habitus der Dialogpartner nicht zusammenfindet und welche Spannungen sich daraus entfalten.
Die Dramatik des Interviews ist allerdings eine spezielle und etymologisch nicht korrekte. Aristoteles leitet das Dramatische von dem Verb draō, also „handeln“ ab. Das Interview setzt an die Stelle dieses Handelns das Denken. Die potentielle Dramatik des Interviews liegt damit darin, dass Denken – nicht Handeln – unter dialogisch erzeugten Bedingungen der Unvorhersehbarkeit geschieht. Und insofern, möchte ich vorschlagen, ist die Peinlichkeit des Denkens der ‚Einsatz‘ des Interviews. Sie steht an der Stelle, an der im ‚eigentlichen‘ Drama der tragische Schmerz des Handelns stehen würde.
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Als Katie Couric Sarah Palin im Interview vorführte und damit John McCains Präsidentschaftskampagne endgültig ins Scheitern stieß, machte eine nicht bloß drohende Peinlichkeit den ästhetischen Reiz aus. Mehr noch als mit Palin spielte Couric mit der Ästhetik der Fremdscham: Courics stets zweifelnder Blick, ihre Stille nach den mit maliziöser Einfachheit gestellten Fragen, ihre gespielt naiven Nachfragen – all das dehnte Palins Stottern in den Genuss unerträglicher Peinlichkeit. Man glaubt fast zu erkennen, wie gnadenlos Couric dafür auch gegen den eigenen natürlichen Impuls des Zur-Hilfe-Kommen-Wollens und Fünfe-Gerade-Sein-Lassen-Wollens anarbeitet. Sie erträgt es offenbar kaum, wie Palin allmählich ihre Ruhe und ihre patriotische Selbstsicherheit verliert und nur noch verunsichert komplizierte und komplett inadäquate Antworten auf simple Fragen bieten kann. Courics andauerndes, fast zum Tick gesteigertes Blinzeln verrät diese innere Spannung – und macht Palin damit nur nervöser. Sichtlich spüren beide bereits, was das Interview zum Youtube-Hit machen würde.
Das Denken des Interviews ist, gerade insofern es ein Denken in Haltungen ist, ein Denken, das mindestens genauso sehr in der Körpersprache spricht wie in derjenigen der Diskurse. Das Interview ist darauf angelegt, eine Form des Denkens zu ermöglichen, bei dem die Körper ganz sicht- oder hörbar, ganz manifest mitdenken. Im Interview ereignet sich damit auch eine andere Form der Macht als man gewohnt ist ‚diskursiv‘ zu nennen. Und doch ist sie eine Sache der ‚Rede‘. Während die gewöhnlich als ‚diskursiv‘ benannte Macht eine Frage der Wissensordnungen und der Konstitution von Subjekten ist, so entscheidet sich die Macht im Interview durch die Präsenz der denkenden Körper.
Diese Körper sind nicht diskursiv erstellt. Im Gegenteil: Sie zwingen die Logik der Diskurse in die eigene Ordnung. Selbst wenn Diskurse die Körper diszipliniert haben, ist das Interview doch noch eine (wenn auch selten genutzte) Chance der Körper, die Wissensordnungen von dem abhängig zu machen, was nur Körper können. Um es auf einen Vergleich zu bringen: Die Macht im Denken des Interviews verhält sich zu der Macht der Diskurse so, wie sich ein Stare-Down zwischen Boxern zu einem Panoptikum verhält. Das Denken des Interviews spielt sich in einer qua Nuancen der Mimik und der Gestik ausgetragenen Dynamik oder Spannung ab – nicht in der Frage, wer wen sehen kann und wer wen nicht. Darin ist das Denken des Interviews der physischen Gewalt affiner als andere Formen, die eher im Symbolischen und also in der Domäne der Macht anzusiedeln sind. Und das ist zumindest eine ästhetische Stärke des Philosophierens im Interview. Denn ein gewaltdurchwirktes Denken ist ein ästhetischeres Denken als ein machtdurchwirktes. Gewalt kann sehr hässlich aber auch sehr schön sein. Viel hässlicher und viel schöner jedenfalls als Macht.
Das Denken im Interview unterscheidet sich insofern vom Denken in einem lehrreichen Monolog, einem Vortrag oder einem Traktat, als es den Denkenden vom Gedachten nicht trennt. Die Gedanken des Interviews müssen von der Physis der Denker gedeckt sein. Es genügt nicht, sie darzubieten. Man muss sie verkörpern.
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Neulich wurde Samuel L. Jackson zu der Ubiquität des „N-Word“ (Nigger) in Quentin Tarantinos Django Unchained gefragt. Den nicht nur weißen, sondern auch ansonsten blassen Interviewer Jake Hamilton fragte er mit einer Ironie, die allein der Kontext, nicht aber sein versteinertes Gesicht hergab zurück, welches Wort gemeint sei: No? Nobody? None? Mit der gleichermaßen verwirrten wie schlafwandlerischen Sicherheit dessen, der moralische Prinzipien an die Stelle seines Bauchgefühls gesetzt hat, antwortete Hamilton, dass er dieses Wort nicht verwenden wolle. „Have you ever said it?“, hakte Jackson nach. Seine gelassene Sicherheit erinnerte an diejenige eines Gangsters, der einen verirrten Zögling aus guter Familie in ‚seinem‘ Viertel entdeckt hat. „No“, antwortete Hamilton und versteckte sich hinter einem Lächeln – offenbar in der Hoffnung, dieses Lächeln würde irgendwie überlegen rüberkommen. „Try it!“ schlüpft Jackson weiter in seine Rolle. Er verhielt sich wie ein mit radikalen Methoden arbeitender Schauspiellehrer, der versucht das Leben, das Gefühl, die Spontaneität und ein Minimum an Bühnenpräsenz aus einem Schauspieler herauszukitzeln. Aber Hamilton erkannte dieses Spiel nicht. Er lächelte weiter und wandte sich zur Regie um. Jacksons Tonfall wurde noch härter. Nun kam der Drill-Sergeant aus ihm heraus, und schließlich die Drohung: „We’re not gonna have this conversation unless you say it.“
Man versteht, was Hamilton meint, wenn er Jackson in einem anderen Interview einen „intimidating guy“ nannte und darzustellen versuchte, wie er ihm dennoch getrotzt hätte, da er ja seine moralischen Werte nicht preisgegeben habe. Aber wen interessieren diese Werte noch, wenn derjenige, der sie zu verkörpern meint, derart an die Wand gespielt worden ist? Hamilton verstand dies nicht einmal in dem Moment, als der Schauspieler diese Drohung sofort als ‚Acting‘ markierte. Ein echtes Lächeln saß auf seinen Lippen, als er sagte: „You wanna move on to another question?“ Ernsthaft hatte offenbar nur Hamilton selbst erwogen, den Senderaum zu verlassen.
Der Ort des Interviews ist ein körperlicher Ort. Ein Ort, wo schauspielerische Präsenz sich unter die Argumente mischen, wo sie deren Rolle annehmen kann. “My question was going to be,“ sagte Hamilton später in einem Metainterview der Buzz Feed, „where is that line between that word being offensive and that word being art?“ Das Interview aber zog sichtbar eine andere Linie: Wo hört das Denken in Prinzipien und Kategorien auf, und wo fängt das Denken der Körper an? Diese Grenze führte Jackson unerbittlich vor. Sie macht das Interview zu einem so besonderen Ort des Denkens, einem Ort, an dem man nicht über die Dinge hinwegreden kann. Nicht nur deshalb nicht, weil man scharf argumentieren können muss, sondern auch weil man sie verkörpern können muss. Oder – um es mit dem letzten Wortwechsel der Interviewpartner zu sagen – Hamilton: „It was a good question, a great one.“ Jackson: „It wasn’t a great question, if you can’t say the word.“
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Mahatma Gandhis erstes Wochenschau-Interview datiert auf den Mai 1931 und wurde in Borsad gefilmt. Nach einer zeitgenössischen fröhlichen Rämtämrämtäm-Marschmusik und einer zeitgenössisch gestellten ‚Ankunft‘ Gandhis an der Stätte des Interviews, entfaltet sich eine in der Logik dieser Inszenierungen überhaupt nicht aufgehende Dramatik. Gandhi hält die britischen Fragen mit zu großer Ruhe aus, spricht mit teilweise zu britischem Akzent in seinem indischen Englisch, in zu weicher Stimme, zu leise, zu langsam. Dieser physischen Unnachgiebigkeit der körperlichen Haltung folgt die Härte seiner Prinzipien. Auch hier sind es die Momente der Stille und der unerbittlich gedehnten Pausen, die dem Interview seine Spannung verleihen – und Gandhi, ganz und gar nicht der in sich ruhende Meditierende mit schaukelnd-leichtem Kopf, den man in ihm zu sehen gewohnt ist, verkörperte diese Spannung in einem ungehemmten Nesteln an den Füßen und an seinem indischen Tuch.
Die Körperlichkeit von Gandhis Denken war im Rahmen indischer Meditationspraktiken geschult – einer Tradition, die die Körperlichkeit der Erkenntnis (etwa in Yoga-Asanas) anerkennt, um sie erst in einem zweiten Schritt zu überwinden. Einem englischen Intellektuellen der damaligen Zeit hatte man indes beigebracht, den propositionalen Gehalt der Rede von dem Akzent und dem Tonfall, das Argument von der Gestik und Mimik, das rationale Denken von den körperlichen Emotionen zu unterscheiden.
Gandhis Weise zu denken entsprach damit dem Interview viel besser. Und auch seine Form der Gewaltfreiheit hätte ohne die Präsenz unerbittlich duldender, aushaltender asketischer Körper kein Gewicht gewinnen können. Sie war insofern sogar gewaltsam, als sie eine Form des Umgangs mit Ohnmacht war, die ohne solche Körperlichkeit nicht ausgekommen wäre. Sie forderte die Macht der Kolonialherren heraus und zwang sie später auch zur kruden, nicht sublimen Gewalt. Und das Interview gab dieser sublimen Gewalt ihren Ort. Auch wenn das Nesteln an seinem Fuß vielleicht nicht dem Ideal der meditationsgeübten Ruhe entsprach – es brachte dieses Verhältnis auf den Punkt.
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Manche der besten Interviews sind agonistisch – und man kann sie mit Kampfsportarten vergleichen. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Reihe der Interviews von Jon Stewart mit Bill O’Reilly. Diese Interviews werden teilweise ähnlich angekündigt wie sportliche Kämpfe, und sie werden auch ähnlich organisiert – mal bei Fox News, mal in der Daily Show, mal interviewt O’Reilly Stewart, mal Stewart O’Reilly, gerade so wie man im Sport Heimspiele und Auswärtsspiele auf einander folgen lässt. In solchen Interviews müssen die Dialog-Gegner sichtbar ihre Haltung behaupten – gegen den Widerstand eines Gegenübers, das die eigene Haltung behaupten will und muss. In Radiointerviews müssen sie das wenigstens hörbar tun: in Rhythmus, Prosodie und emotionalem Timbre der Stimme. Auch in vielen transkribierten Interviews bleibt diese Dimension in der Lektüre noch spürbar (oder zumindest erahnbar). Selbst hier scheint die Verbalsprache noch enger mit der Körpersprache verschmolzen zu sein als dies in anderen transkribierten Äußerungen der Fall ist. Wie der Kampfsport sind auch viele Interviews darauf angelegt, dass Menschen Höchstleistungen bringen, während sie sich dabei gegenseitig behindern. Wie im Kampfsport wird dann dafür gesorgt, dass Menschen sich unter Bedingungen bewähren müssen, in denen sie auf Pläne angewiesen sind, die aber alle am Gegenüber scheitern können, in denen Automatismen gefordert sind, aber ihr Gelingen bedroht ist. Das Interview basiert dann – wie der Kampfsport – auf der Einrichtung eines stets gefährdeten und auf seinen Zusammenbruch angelegten Gleichgewichts von Haltungen, die sich gegenseitig unterlaufen und damit Unberechenbarkeit schaffen.
Es braucht im Interview aber so agonistisch nicht zuzugehen, wie es jetzt scheinen mag. Es kann auch ein friedliches Ineinandergreifen der Körpersprachen geben – wie etwa bei dem berühmten Interview von Oprah Winfrey und Michael Jackson. Aber auch dann muss es überraschende Wendungen geben können. Die Unvorhersehbarkeit braucht das Interview auch dann – und mit ihr das Risiko der Peinlichkeit. Ohne diesen Schatten würde das Gelingen derjenigen Form des Denkens, die ein Interview ausmacht, nicht möglich sein.
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Eigentlich war es ein schöner Zufall, dass mein erstes Interview neben der Bühne – wenn ich mich richtig erinnere, sogar auf dem Gang zu den Toiletten – stattfand. Das Interview ist, wie der Name sagt, eine Zeit-Form des Denkens, eine Gattung der Flüchtigkeit und der teilweise kontingenten Begegnung, eine Form, „sich kurz zu sehen“. Der Ort des Interviews ist immer ein verzeitlichter Ort – kein ‚verorteter‘. Interviews haben keine Arena, keinen Ring, keine Bühne. Sie können im Prinzip überall stattfinden. Radio-Interviews finden meistens am Telefon statt – d.h. in irgendeiner Küche daheim beim Interviewten; und zugleich in irgendeinem Studio, in der Telefonleitung, im Äther – überall und nirgends. Das Interview arbeitet mit – wenn schon – sehr durchlässigen Grenzen und Demarkationslinien, die es von dem Rest der Welt abtrennen. Anders als die Performance Art oder das moderne Theater muss das Interview damit gar nicht erst die Grenze zwischen Spielwelt und Lebenswelt, zwischen Aufführungsraum und Lebensraum dekonstruieren. Es kennt sie gar nicht erst.
Prinzipiell hat das Interviewdamit keinen Ort. Konkret und faktisch dafür umso mehr. Wenn es einmal irgendwo ist, dann ist es auch wirklich nur dort. Es findet in der Welt statt – nicht auf irgendwelchen Brettern, die zusätzlich noch eine andere Welt bedeuten. David Lynchs „Interview Project“ führt das vor. Interview kann überall sein. Aber wo es dann gerade ist, ist ganz entscheidend. Es könnte dann nirgendwo anders mehr sein. Und nirgendwann anders, denn wie gesagt: Dieser Ort ist immer ein Zeit-Ort.
Wo es nicht um die Logik der Grenzen und ihrer Überschreitung geht, sondern ums Zeitliche, da geht es umso mehr um die Transformationen und Metamorphosen des Gegebenen. Diese Metamorphosen sind selten – meistens richtet sich recht bald ein Gleichgewicht ein und bleibt bis zum Ende des Interviews bestehen. Aber dennoch scheinen mir viele Interviews auf sie hin angelegt oder eingerichtet zu sein. Wie ein Boxkampf auf einen KO, der vielleicht nie eintritt, steuern Interviews auf einen Zeitpunkt zu, der vielleicht nie eintritt.
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Ein Meister des Zeitpunkts war Jim Morrison. Manchmal nutzte er ihn, indem er ihn leer ließ. Nachdem alle anderen drei ‚Doors‘ aus einer Tür gekommen waren und dem Interviewer bereitwillig jeweils ihren Namen, ihren Nachnamen und ihren Beruf angegeben hatten, wurde er gefragt: „Name?“ – „Jim.“ „Profession?“ Sein Blick wanderte ins Leere, während er ein breites Grinsen aufsetzte und sein Körper irgendwo zwischen geschmeidig und torkelnd noch mehr Präsenz gewann als er eh schon hatte. Das Interview muss keine Aussage haben. Aber es hat Zeit. Und auch wenn diese Eigenschaft lange unbemerkt bleiben kann, kann sie doch plötzlich hervortreten. Und dann – wie das KO beim Boxen – steht auf einmal eine andere Zeitordnung neben der bloß ablaufenden Zeit.
Morrison hat sich in einem „Self-Interview“ auch theoretisch zur Zeit im Interview geäußert: „Once you say something, you can’t really retract it. It’s too late. It’s a very existential moment.“ Dieser Moment ist existentiell, weil er eine Chance ist, die Welt zu verwandeln – und nicht so sehr eine Chance, etwas über sie zu sagen. Und er ist es auch, weil er verpasst werden kann. Hätte Diego Maradona sein „un poco con la cabeza, un poco con la mano de Dios“-Interview nicht direkt nach dem Spiel gegeben: Es hätte keine „Hand Gottes“ gegeben, sondern nur ein zu Unrecht gegebenes Hand-Tor. Interviewgedanken sind Gedanken, die ihren Zeitpunkt haben und ohne ihn nicht das sein könnten, was sie sind.
Auch das macht das Interview dem Sport ähnlich – und so braucht es nicht zu wundern, dass es manchmal Sportler sind, die die Kunst des existentiellen Moments zur Perfektion bringen. Der junge Muhammad Ali beherrschte dieses Denken auf eine ähnliche Weise, wie er das Boxen beherrschte. Am anschaulichsten vielleicht sogar noch vor seiner Konversion und sogar bevor der damalige Cassius Clay Weltmeister wurde. Als Jim Jacobs, beeindruckt von der Dominanz des Weltmeisters anhob, bekam er das zu spüren: “I’ve seen Sonny Liston a few days ago, and he…“ – „Ain’t he ugly? He’s too ugly to be the World Champ. The World Champ should be pretty, like me!“
Wenn man diesen Moment einem analytischen Blick aussetzt, erscheint alles unglaublich kompliziert. Ali verdreht das „I’ve seen“ vom „… ich habe Liston getroffen“ zum Visuell-Ästhetischen „ich habe ihn mir angesehen“, das Argument von der sportlichen Einschätzung der Stärke in eine Frage der Moral und dessen was sein sollte – und die Moral gewinnt dabei eine ungewöhnlich provozierende Wendung; nämlich diejenige, einer Ästhetik zu folgen – und zwar einer durch und durch politisierten Ästhetik: Lange vor „Black is Beautiful“ erhebt Ali hier schwarze Schönheit zur entscheidenden Größe. Jede dieser Wendungen hat einen Rattenschwanz – und diese Rattenschwänze alle zu bedenken, ist in dem kurzen Moment der Wendung unmöglich. Aber es ist leicht zu lachen und all diese Dimensionen im Lachen zu spüren und eben nicht im Bedenken – man könnte sagen: Die Wendung des Interviews ergibt die Chance, Lachen als eine Form des Denkens zu betreiben.
Das ist die Stärke eines Interviews, dessen Denken auf das Ineinander von Haltungen und die Unvorhersehbarkeit von diesem Ineinander hin angelegt ist. Es kommt auf das Erkennen und Ausdifferenzieren von Gegenständen des Denkens weniger an als vielmehr auf ein Denken in der Zeit und mit der Zeit. Der Vorteil dieses Denkens ist, dass es all den analytischen Schwierigkeiten mit einer ihr fremden Leichtigkeit begegnet. Man denkt, indem man eine Wendung mitvollzieht; man denkt, wie Ali boxte: Im ständig unerwartbaren Wandel vom „Floating like a Butterfly“ und „Stinging like a Bee“. Ein solches Denken liegt nirgendwo anders als in den Gelegenheiten – den Gelegenheiten, die emergieren wie Torchancen aus einem Fußballspiel, und die wie sie da sind, verwandelt zu werden. Man erkennt sie im Verwandeln, nicht im Analysieren. Die Zeitlichkeit dieses Denkens steht damit jenseits der Zeitlichkeit eines Denkens in Propositionen. Wie beim Fußball die Uhr in solchen Momenten nicht mehr zu laufen scheint und kein Spiel abgepfiffen werden darf, so führen auch solche Momente des Denkens in eine andere Zeit. Eine Zeit der Gegenwart, nicht des Ablaufs.
Das griechische Wort für eine solche Zeit-Gelegenheit ist Kairos. Und ist das Interview auf solche Momente hin angelegt (und ich weiß, dass das nur manchmal der Fall ist), dann besteht sein Sinn darin, Denken unter den Bedingungen des Kairos gelingen zu lassen. Diese Dimension ist, was das Interview für mich philosophisch machen kann. Es ist dann eine Philosophie als Zeit-Denken, nicht in dem Sinne, dass über die Zeit nachgedacht würde, sondern dass man dem Zeitlich-Sein des philosophischen Denkens eine besondere Form verleiht.
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„I think the interview is the new art form“, beginnt Morrisons bereits zitiertes Self-Interview. Vermutlich dachte er, dass es damit etwas Inspiriertes sein sollte, etwas das vom Unbewussten herkommt und sich ohne die Kontrolle des reflexiven Geistes ergibt.Andere Kunstformen verstand er jedenfalls so: In einem Interview am 23.5.1969 beschrieb er seine musikalische Improvisation als ein Spiel mit dem, was da ist. „Pick up vibrations from the music and what’s coming from the audience and, er, just kind of follow it, wherever it goes.“ Tatsächlich legte Morrison es sehr darauf an, dass es aussah, als folgte er auch während seiner Interviews seinen Vibrationen – und vielleicht tat er das auch. Auf irgendeine Weise. Sein Blick jedenfalls ging bei den Interviews meist ins Leere, der Kopf wiegte auf den Schultern als sei dazwischen kein Hals, sondern nur ein Schweben; er schien ganz bei sich zu sein und dann kamen in sanfter Stimme, die er mehr zu hören als zu sprechen schien, Antworten dahergeflogen wie diejenige auf die Frage, ob er ein Superstar sei: „I think, in thesedays, especially in thesedays you have to be a politician or an as sasin or something to really be a superstar.“
Bei solchen Sätzen geht es nicht so sehr um die Aussage – d.h. um die Gleichstellung von Politiker, Mörder und Irgendwas. Es geht mehr um den Moment dieser Gleichstellung, um ein Denken, das auf Transformation seiner im situierten Kontext gegebenen Voraussetzungen aus ist und nicht auf Gegenstandsbildung. Der Punkt ist die Verschmelzung der Gedanken mit dem Moment ihrer Äußerung, der Aussage mit der Körpersprache – des Nachdenkens über die Welt mit der Welt selbst, in der dieses Denken stattfindet.
Wenn es einen ‚Grund‘ dafür gibt, dass Morrison das Interview als Kunstform bezeichnet, dann liegt er wohl hier: In der Zeit, da das Theater verzweifelt versuchte, die Grenze zwischen Bühnen-Welt und Lebens-Welt loszuwerden, war das Interview bereits da.Es kannte diese Grenze nicht, hatte sie gar nicht erst aufgebaut. Es brauchte sich nicht autopoietisch hervorzubringen, seine eigene Performativität herauszukehren und damit eben gerade von anderen Formen des ‚bloßen‘ und nicht so sehr herausgestellten Tuns zu unterscheiden. Es musste sich nur ereignen, musste sich nicht beziehen. Nicht einmal auf sich selbst. Es konnte, aber es muss nicht.
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Gewiss ist die Philosophie gerade keine ars und damit auch keine „art form“. Sie ist eine scientia. Aber vielleicht muss man dieses Wort angesichts des Interviews neu fassen. Scientia ist ein Partizip des Verbs ‚scire‘, das wissen, können und wahrnehmen heißt; und vielleicht sollte das Tätigkeitshafte dieses Verbs in die scientia zurückfinden. Denn damit gäbe man dem Interview das, was es philosophisch machen könnte: Die Möglichkeit eines Kairos des Denkens.
Aber was machte es ‚neu‘ in Morrisons Zeit, in der es Interviews schon länger gab als etliche andere gerade entstandene Kunstformen? Vielleicht muss man sich auf Morrisons damaligen Blick in die Zukunft einlassen, der mir weniger veraltet zu sein scheint als die meisten Zukunftsblicke seiner Zeit- und Altersgenossen. Morrison war vielleicht der einzige wirklich berühmte Exponent jener eigentlich utopischen Jugend-Bewegung der späten Sechzigerjahre, dem das utopische Denken vollkommen fremd war. Die Befreiung, die er anstrebte, hatte weder ein Ziel noch einen Plan, eine bessere Gesellschaft schwebte ihm nicht vor – im Gegenteil waren ihm die Blumenkinder fast genauso suspekt wie die Militärs, denen der Offizierssohn aus vorwiegend ödipalen Gründen den Kampf angesagt hatte. Stehen ließ Morrison von dem ‚Geist‘ seiner Zeit nur das Psychedelische – und zwar in einer ganz profanen, eher der Pharmakologie als der utopischen Philosophie affinen Art. Seine Befreiung stand im Dienste keiner Idee – sondern nur im Dienste einer Radikalität der sich selbst auslebenden Intensität.
Diese Radikalität ist seither kaum in die Krise geraten. Sie ist eine der möglichen Haltungen auch in der Gegenwart geblieben. In die Krise geraten ist stattdessen dasjenige vermeintlich philosophische Denken, das mit dem Glauben einherging, man könne Modelle einer besseren Welt entwerfen und auch verwirklichen. In der Krise scheint inzwischen sogar dasjenige Denken zu sein, das glaubt, die Welt würde irgendwelchen Modellen von ihr überhaupt nur entsprechen können. Die Welt scheint eher zu machen, was sie will – sei es in Hinblick auf das Klima oder die Finanzmärkte, die unerwartet ausbrechenden Revolutionen, das Ausbleiben des Waldsterbens. Sie kümmert sich sehr wenig um Wissensordnungen. Und allmählich scheint es daher auch denjenigen Theorien an den Kragen zu gehen, die behaupten, die Welt sei durch Wissensordnungen strukturiert oder gar von ihnen hervorgebracht. In der Krise sind damit die meisten jener Arten eines Denken von der Welt, die lange Zeit als eigentlich ‚philosophisch‘ galten.
Gewiss kann die Philosophie gerade aus der Krise ihre Stärke entwickeln, indem sie ihre Modelle schärfer, komplexer unnachgiebiger macht. Aber es besteht auch das Risiko einer Loslösung des Philosophierens von all dem, was es angehen sollte. Je weniger Menschen den abstrakten Modellen der Philosophie zutrauen, etwas über die Welt sagen zu können, desto mehr scheint es, sie ginge uns in unserem zeitlichen, kurzen und verorteten Leben so wenig an, wie einen Epikureer die Götter angehen.
Vielleicht täte es der Philosophie daher gut, sich auch an solchen Arten des Denkens zu brechen, die in der Welt stattfinden und mit den Transformationen des weltlichen Geschehens arbeiten anstatt sie nur zu bedenken. Auch auf das Risiko hin, dass sie es damit auch auf flüchtige und situierte Gelegenheiten des Denkens anlegen müsste und nicht auf die außerweltliche Ewigkeit wohlarchivierter Traktate. Neben ihr berechtigtes Anliegen, noch komplexere philosophische Modelle von der Welt zu ersinnen, könnte auch das Anliegen treten, in der Welt und mit der Welt zu denken. Das Interview wäre der privilegierte Ort dieses Denkens.
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Wie gesagt eignet dem Interview etwas Dramatisches, das sich aber nicht im Handeln, sondern im Denken ereignet. Und es wird entsprechend auch transkribiert wie ein Drama. Platon – selbst ein Kampfsportler, ein Ringer – schuf und wählte für die meisten seiner Schriften diese Form. Gewiss geht es hier, wenn überhaupt, um stark ‚redigierte‘ und sehr wahrscheinlich stattdessen um fiktive ‚Interviews‘. Interviews also, die gar keine sind – die aber immerhin auf einen Mit- oder Nachvollzug des Denkens in zeitlicher und situierter Form erlauben: Ein mitgehendes und mitdenkendes Lesen – nicht nur eines, das vor und zurück von Abschnitt zu Abschnitt und Zeile zu Zeile springt.
Auch ein solches Mitgehen kann Wendepunkte und Verwandlungen erfahren – und Platon ist diese Möglichkeiten des Denkens als zeitlicher und situierter Tätigkeit bewusst. Er beschreibt sie in seiner Theorie der Theorie, oder eben ‚theoria‘, in der er das Denken zu einem rituellen Event, einem Schauumzug macht; denn nichts anderes bedeutet das Wort – auch dann, wenn es die Seele ist, die an diesem Umzug teilnimmt, und nicht der Leib. ‚Theoria‘ ist, kann man sagen, ein kurzes Sehen, eine kurze Begegnung – und damit, etymologisch gesehen ein Interview.
Vielleicht ist die Gattung des platonischen Dialogs gerade vor diesem Hintergrund zu verstehen. Denn eine Art Kairos des Denkens scheint für Platon immer wieder entscheidend – in kaum einem Text ist je besser mit den Gelegenheiten des Denkens gespielt worden als in der Abfolge der Reden im Symposion. Als ein Beispiel dieser Kunst lässt sich aber auch das Ende des Ion-Dialogs anführen. Der berühmte Rhapsode Ion kann nicht recht begründen, warum sein Können auch mit Wissen einhergehen soll – denn für seine Fertigkeit gilt was für implizite Formen des Wissens generell gilt: Sie zu verstehen bedeutet nicht, dass man auch gut über sie reden könnte. Das leuchtet auch heute noch ein: So wie ein guter Geiger nicht notwendig sagen kann, was das Gelingen seines Saitenspiels ausmacht, so wie ein guter Boxer nicht notwendig auch ein guter Trainer ist, so kann auch Ion nicht recht sagen, was seinen Vortrag auszeichnet. Er kann seine Art des Könnens nicht in die Ordnung eines propositionalen Gehalts überführen – und er erhofft sich diese Leistung von Sokrates.Doch der hat gar nicht vor, ihm diesen Gefallen zu tun, sondern versucht umgekehrt, Ion durch geschickte Interviewführung aufs Kreuz zu legen. Der arme Ion muss nach und nach anerkennen, dass sein Können mit keinerlei bewusstem Wissen einhergeht. Der Dialog ist ein antagonistisches Interview, das Ion immer mehr der Peinlichkeit preisgibt.
Was Sokrates allerdings nicht gelingt, ist umgekehrt der Nachweis, dass sich damit auch notwendiger Weise keine Wahrheit in Ions Kunst fände – denn könnte diese Wahrheit Ions Homervorträgen auch auf eine nicht reflektierte Weise innewohnen. Und so endet der Dialog auch nicht mit einem vollständigen Sieg des kritischen Denkers – sondern nur mit dem Teilerfolg; nämlich dem Ergebnis, dass weder die (musengetriebenen) Dichter noch gar die (dichtergetriebenen) Rhapsoden eine reflexive Kontrolle über die Wahrheit ihrer Texte ausüben können.Sie wissen– in Platons Worten – nicht, ob sieBetrüger oder göttlich Berufene sind. Ion findet es nun begreiflicher Weise viel schöner, göttlich zu sein – und Sokrates beschließt den Dialog mit den Ions Unfähigkeit ins Lächerliche ziehenden Worten: „Dieses Schönere, oh Ion, wird Dir bei uns zuteil – nämlich ein göttlicher, aber kein bewanderter Homervorträger zu sein“ (542b).
Der Satz gibt dem Dialog aber eher eine unerwartete Wendung als er ihm eine Lösung zukommen ließe. Das „bei uns“ kehrt den Mangel an verallgemeinerbarer Erkenntnis hervor. Selbst die zurückgenommene Anerkennung des Schöneren (das aber deshalb kein Wahreres oder Besseres sein muss) als ‚Grund‘ für ein Urteil entspricht nicht Sokrates’ vorher vertretener Logik.Die Eleganz, in der er den Dialog beendet, folgtstattdessen derjenigen Ions: An die Stelle des Arguments tritt das schöne Umgehen mit dem Zeitpunkt, an die Stelle des Gehalts ein Moment, bei dem das Denken „bei uns“ Form wird. Auf dem eigenen Boden zu unterliegen und dazustehen als einer, der nichts mehr sagen kann gegen die Beleidigung unbewandert zu sein, macht die Angelegenheit für Ion nur noch peinlicher.
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Ich möchte ich mit einem Interview schließen, bei dem gewissermaßen der Ion und nicht der Ironiker gewonnen hat. Vermutlich ohne es auch nur zu wollen, gelang dieser Gegendialog vor ein paar Jahren dem potugiesischen Autor Antуnio Lobo Antunes im Rahmen „Literatur im Rцmer“. Holger Noltze, inzwischen Musik- und Medienprofessor an der Universität Dortmund, fьhrte das Interview – und er versuchte die sich gnadenlos dehnende Zeit hindurch, den Portugiesen in seinen ironisch klugen Plauderton mit einzuspannen. Doch der blieb bei seinem tragischen Ernst. Immer wieder scheiterte die Ironie an Lobo Antunes’ offenbar gar nicht provokativ noch ьberhaupt irgendwie‚gemeinten‘ Melancholie. Lobo Antunes meinte was er sagte und was er schrieb. Und seine unerbittliche Leichtigkeitsverweigerung zeigte die ganze Peinlichkeit eines Ironikers auf, der tief in all dem verfangen ist, was er zu reflektieren glaubt. Es war dies die Peinlichkeit einer auf Distanz bedachten Intellektuellenhaltung, die an ihre Grenzen stieß, weil sie eben doch nur eine Haltung in der Welt war und nicht eine Art, sich ьber sie zu erheben.
Philosophia 4/2012, pp. 100-113