Ein neues Buch über die Philosophie Leonard Nelsons

Erwin Tegtmeier

  1504326172_tekken7_SMALL PDF

Dragan Jakovljević: Das Selbstvertrauen der Vernunft und die Sokratische Methode, ISK, Podgorica 2021, p.180.


Das neue Buch des serbischen Philosophen Dragan Jakovljević beschäftigt sich mit dem deutschen Mathematiker und Philosophen Leonard Nelson, der von 1882 bis 1927 gelebt hat und der an Jakob Friedrich Fries (1773-1843) anschließt. Er gründete 1903 sogar eine Neue Fries’sche Philosophenschule. Fries folgte zeitnah auf Kant und wurde ursprünglich durch die kantische Philosophie geprägt. Nelson ist Jakovljevićs Hauptforschungsgebiet. Das hängt damit zusammen, dass er dem Kritischen Rationalismus von Karl-Popper und Hans Albert nahesteht, der sich in der Nelsonschen Tradition sieht. Jakovljević hat bei Albert promoviert. Neben Nelson hat er denn auch die Philosophie Poppers in mehreren Beiträgen erforscht.

Im Buch legt er eine Reihe wichtiger neuer Forschungsergebnisse vor. So arbeitete er seine schon früher aufgestellte, aber von den meisten Nelson-Forschern nicht geteilte, These weiter aus, Fries und Nelson seien keine bloßen Fortbildner der Philosophie Kants gewesen. Er legt dar, dass ihre Lehren nicht eigentlich als “Kantianismus” bezeichnet werden können. Vielmehr haben sie einen anderen Ansatz als Kant. Sie gehen sogar von der Unmöglichkeit einer Erkenntnistheorie im Kantschen Sinne aus mit der Aufgabe, die objektive Gültigkeit unserer Erkenntnis zu erweisen. Sie halten deren Ansatz für zirkulär, weil er die eigene objektive Gültigkeit voraussetzt. Den transzendentalen Ansatz Kants ersetzen sie durch einen epistemischen Fundamentalismus, was weitreichende philosophische Konsequenzen hat. Im Mittelpunkt dieses Fundamentalismus steht der Begriff der “unmittelbaren Vernunfterkenntnis”. Jakovljević expliziert diesen Begriff genauer. Er versteht ihn als eine Rückkehr zum klassischen Rationalismus. Es handelt sich bei der unmittelbaren Vernunfterkenntnis um eine Erkenntnisart, die Ihrer Begriffsbestimmung nach die Kriterien eigener Gültigkeit mit sich bringt. Jakovljević sieht darin den genauen Sinn der Rede vom Selbstvertrauen der Vernunft. Er hebt auch hervor, dass es sich bei der unmittelbaren Erkenntnis hauptsächlich um die metaphysische Erkenntnis, um die Erkenntnis der metaphysischen Voraussetzungen aller Wissenschaften handelt.

Nach dem einleitenden Kapitel, in dem die Vorgeschichte sowie die Grundzüge der Philosophie Nelsons einschließlich ihrer pädagogisch-sozialpolitischen Wirkung, die bis zur Beeinflussung der modernen Deutschen Sozialdemokratie hin reicht, dargelegt werden, geht der Verfasser gleich zur Behandlung des Grundsatzes des Selbstvertrauens der Vernunft als des Kerngedankes dieser Philosophie über. Es handelt sich um die bislang eingehendste und ergiebigste Interpretation dieses Grundsatzes, wobei der Verfasser u.a. die Kritik von Reinhard Kleinknecht daran zu entkräften versucht. Entgegen einer verbreiteten Auffassung, dass der Grundsatz des Selbstvertrauen der Vernunft relativ klar ist, arbeitet der Verfasser zwei voneinander deutlich abweichende Formulierungen dieses Grundsatzes bei Fries und Nelson heraus, womit die Frage gestellt wird, ob es sich dabei überhaupt noch um eine ganz einheitliche These handelt. Die eine Formulierung findet sich innerhalb ihrer Epistemologie, die andere innerhalb ihrer Sozialphilosophie. Jakovljević wendet sich gegen die Auffassung, dass der Grundsatz trivial sei und Ausdruck von Dogmatismus, wie es z.B. Hans Albert vertritt. Dem naheliegenden Einwand der Zirkularität gegen die Selbstbestätigung der Vernunft durch sein Gültigkeitskriterium begegnet Jakovljević mit der Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Metaerkenntnis. Es handelt sich ihmzufolge um einen Grundsatz, der auf der Ebene der Metaerkenntnis angesiedelt ist und von dort aus seine beglaubigende Funktion für die Erkenntnisse menschlichen Geistes, vor allem aber seiner unmittelbaren Vernunfterkenntnis, erfüllt. Mit dieser Sicht des Grundsatzes kann er ihn gut in der eigentümlichen Erkenntnislogik Nelsons vernetzen.

In offensichtlichem Gegensatz zum Selbstvertrauen der Vernunft steht bei Nelson die Anerkennung der grundsätzlichen Fehlbarkeit der Vernunft. Er neigt zunächst dazu, der Vernunft Irrtumsfreiheit und Unbezweifelbarkeit zuzuschreiben. Dann kommt er zur Einsicht, dass die Vernunft nur das Maß ist, mit dem wir Wahrheit oder Falschheit von Urteilen feststellen, die Instanz, die uns befähigt, Urteile zu korrigieren und zu wahren Urteilen zu gelangen.

Auch die psychologische Komponente der Epistemologie Nelsons erörtert Jakovljević, insbesondere die Natur und Rolle der introspektiven Methode (der “geistigen Selbstbeobachtung“), wobei er die Untersuchungsergebnisse von Konrad Lorenz und die des Wissenschaftstheoretikers Volker Gadenne, der sich besonders mit der Psychologie beschäftigt hat, aufnimmt.. Im gleichen Zusammenhang wird auch der Begriff der vorbewussten bzw. unbewussten Vernunfterkenntnis analysiert und mit den Auffassungen von Leibniz, Viktor Frankl, Carl Gustav Jung verglichen. Abschließend weist der Verfasser auf die Schwächen von Nelsons psychologischen Analysen hin, aber auch auf die Richtigkeit von dessen Meinung, psychologische Befunde seien erkenntnistheoretisch relevant. Vor allem wird die Unrichtigkeit des Nelsonschen reduzierten Verständnisses von Psychologie hervorgehoben, wonach diese Wissenschaft der inneren Erfahrung sei.

Ein längeres Kapitel betrachtet ausführlich die Sokratische Methode der Nelsonschen Schule, ausgehend von seinem eigenen Verständnis bis zum reformierten Verständnis von Heckmann und Raupach Strey. Hier zeigt sich die Vernunft als dialogisch und prozedural, sowie nach einem intersubjektiven Konsens der Diskussionsteilnehmer suchend. Der Verfasser schließt sich Ernst Tugendhat an, der die Vernunft nicht mehr als umfassendes Vermögen versteht (wie es die Philosophen von Aristoteles bis Kant getan haben) sondern bloß als die Fähigkeit, nach Gründen fragen, diese zu formulieren und zu verteidigen. Bei diesen Untersuchungen geht es auch um Konsens als Wahrheitskriterium, als Möglichkeit einer Versöhnung der transzendentalen (bzw. anthropologischen) Deduktion mit den Leistungen Sokratischer Gespräche. Der Verfasser kommt dabei zum Schluss, dass es sich doch um eine aufgespaltene Rationalitätsvorstellung handelt, deren beiden Verfahrensweisen innerhalb von Nelsons Schule praktiziert werden. In neuerer Zeit ist ein Trend zu verzeichnen, wonach sich immer mehr Anhänger der Nelsonschen Schule für die Sokratische Methode entscheiden, und die transzendentale Deduktion stillschweigend fallen lassen. Bei der sokratischen Methode stellt der Verfasser die Spannung heraus, die sich aus dem Streben nach Konsens einerseits und dem Verfechten eines konsequenten Fallibilismus andererseits ergibt.

Schließlich leitet Jakovljević zur praktischen Philosophie von Julius Kraft über, der auch Soziologe war und an Nelson angeknüpft hat. Die praktische Philosophie bildete einen der Schwerpunkte von Nelsons Forschung. Kraft gehört in den Umkreis der Frankfurt Schule und seine Anknüpfung an Nelson hat mit dessen Sozialismus zu tun, der allerdings Konsequenz von Nelsons Ethik ist. Nicht alles, was Nelson zu diesem Thema vertreten hat, ergab sich jedoch aus seiner Ethik.

Auch wenn Nelson heute nicht gerade im Mittelpunkt des Interesses steht, kann man, wie zu Anfang gesagt, Jakovljevićs Buch als wichtig ansehen. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Nelsonforschung, weil es vieles bislang Ungeklärtes gründlich klärt, und es ist ein Beitrag zur zeitgenössischen erkenntnistheoretischen Diskussion, weil Jakovljević nicht nur die Weiterentwicklungen innerhalb der Nelsonschen Schule verfolgt, sondern auch, weil er darüber

nachdenkt, wie eine modifizierte Nelsonsche Erkenntnistheorie in die zeitgenössische Diskussion produktiv eingebracht werden könnte. Vor allem im letzten Kapitel setzt er sich mit zeitgenössischen Stellungnahmen zu Nelson auseinander und er ergreift keineswegs immer Partei für Nelson, auch wenn er auf Missverständnisse von Nelsons Auffassungen aufmerksam macht und gegen eine Unterschätzung Nelsons ankämpft. Angesichts der Menge der auf Nelson bezogenen zeitgenössischen Zitate ist man erstaunt darüber, wie präsent Nelson noch ist, zumindest als Gegenstand der kritischen Distanzierung.


Philosophia 31/2023, pp. 189-193