Alexander Kanev
Abstract: The paper aims at reconstructing the depth structure of the history of Western philosophy. The main components of that structure are philosophical paradigms, i.e., dominant research programs that determine to a significant degree the possibilities and the tasks of philosophical practices. Philosophical paradigms, being rather abstract in their content, are always embodied in mutually opposing, pro-naturalist and anti-naturalist schools and traditions. Due to permanent disagreements over the solutions of the paradigm problems there emerge anti-paradigm movements that reject the dominant research program, without being able to propose a (convincing) alternative program. Their appearance induces paradigm crises. There are two types of radical responses to those crises, and they amount to two types of revolutions in Western philosophy, namely methodological and paradigm revolutions. The latter seek to overcome both the old research program and the old anti-paradigm movements. Thus, paradigm shifts in philosophy come about through negative dialectical syntheses.
PDF Keywords: philosophical paradigms, anti-paradigm movements, methodological and paradigm revolutions.
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Diese Arbeit zielt darauf ab, Ansätze zu einer Theorie der strukturellen Aspekte der Geschichte der abendländischen Philosophie zu erarbeiten. Ihre Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass die schon vorhandenen Theorien der Philosophiegeschichte dem Phänomen der philosophischen Revolutionen nicht gerecht werden können.
- Einleitung
Das Problem der philosophischen Revolutionen
Die meisten Theorien der Philosophiegeschichte gehen davon aus, dass es keine echten philosophischen Revolutionen gegeben hat.[1] Beispielsweise beruht die Hegelsche Theorie auf dem Prinzip der Aufhebung, demzufolge die „späteste, jüngste, neueste Philosophie die entwickelste, reichste und tiefste ist“, da sie die Prinzipien der Philosophien der Vergangenheit aufbewahre.[2] Klarerweise beinhaltet diese Auffassung, dass es keine tiefen Brüche in der Philosophiegeschichte gibt; sonst könnte die neueste Philosophie die Prinzipien der älteren Philosophien nicht erhalten. Heute erscheint die Hegelsche Theorie der Philosophiegeschichte unplausibel. Es ist nun schwierig, ja sogar unmöglich, die Hegelsche Betrachtungsweise der Beziehung zwischen den früheren und den späteren Philosophien mit der posthegelschen Entwicklung der westlichen Philosophie in Einklang zu bringen. Angesichts der Tatsache, dass viele der großen Denker nach Hegel die Möglichkeit der Metaphysik und sogar der theoretischen Philosophie überhaupt in Frage stellen, ist es zweifelhaft, ob es irgendwelche Hauptideen der Philosophie der Vergangenheit gibt, die in den neuesten anti-metaphysischen Philosophien aufbewahrt worden sind. Es wäre unplausibel zu behaupten, dass die Prinzipien der metaphysischen Philosophien in der Philosophie des späten Wittgenstein aufrechterhalten werden. Einflussreichen Denkern wie Nietzsche, Heidegger, Wittgenstein, Foucault, Rorty und Derrida geht es vielmehr darum, die Grundlagen der abendländischen philosophischen Tradition zu kritisieren und zu dekonstruieren, und nicht etwa sie beizubehalten. Die posthegelsche Entwicklung der Philosophie steht also im Widerspruch zu Hegels Theorie der Philosophiegeschichte. Bekanntlich hat Vittorio Hösle versucht, diese empirische Inadäquatheit der Hegelschen Theorie zu überwinden, indem er sie mit der Zyklentheorie der Philosophiegeschichte synthesiert.[3] Meines Erachtens ist Hösles Versuch nicht überzeugend.[4] Die immer stärkere Tendenz der Kritik der Metaphysik, die von Hume und Kant über Nietzsche bis auf Wittgenstein, Carnap, Heidegger und Derrida die Entwicklung der abendländischen Philosophie dominiert hat, lässt sich im Rahmen einer Zyklentheorie der Philosophiegeschichte nicht zulänglich rekonstruieren. Dasselbe Defizit weisen die Konzeptionen von Nicholas Rescher[5] und Randall Collins[6] auf, da sie eben keine tiefgreifenden Brüche bzw. radikal neuen Tendenzen in der Philosophieentwicklung identifizieren können.
Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass wie die reifen Wissenschaften[7] so auch die Philosophie in ihrer Geschichte Revolutionen durchgemacht hat. Solche Revolutionen sind beispielsweise die Wende zum Subjekt bei Descartes und die Wende zur Sprache bei Frege und Wittgenstein. Diesen Revolutionen wird jährlich eine nahezu unübersehbare Anzahl an Veröffentlichungen gewidmet. Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen dabei in der Regel aber nur konkrete einzelne Fragestellungen, und die Natur philosophischer Revolutionen wird an sich nicht thematisiert. Dies liegt wohl auch daran, dass es sehr schwierig oder sogar unmöglich zu sein scheint, eine plausible Theorie der Philosophiegeschichte bzw. der tiefgehenden Wandlungen der Art zu philosophieren aufzustellen.
Die Hauptschwierigkeiten, vor die eine solche Theorie gestellt wird, rühren von der Tatsache her, dass es nie einen breiten Konsens über die konkreten Ergebnisse der philosophischen Untersuchungen gegeben hat. Der ständige Dissens unter den Philosophen scheint die Möglichkeit einer brauchbaren Theorie der Philosophieentwicklung zu unterminieren, und zwar sowohl hinsichtlich ihres Gegenstands als auch ihrer Begründung. Die große Vielfalt der philosophischen Positionen, die in jeder Epoche der Philosophiegeschichte entwickelt werden, erweckt den Eindruck, dass der abendländischen Philosophieentwicklung überhaupt keine Ordnung zukommt. Auf Grund der angeblich chaotischen Mannigfaltigkeit der philosophischen Ideen scheint jeder Versuch, unter der bunten Oberfläche der Philosophiegeschichte eine Struktur der Entstehung neuer philosophischer Strömungen aufzudecken, zum Scheitern verurteilt zu sein. Insbesondere scheint der ständige Mangel an Konsens hinsichtlich der Resultate des philosophischen Denkens zu beinhalten, dass es wohl unangemessen ist, von philosophischen Revolutionen zu sprechen. Vom Begriff her sind die intellektuellen Revolutionen grundlegende Veränderungen eines Gebiets des menschlichen Denkens. Da angesichts der Vielfalt von unverträglichen philosophischen Positionen die westliche Philosophie nie gemeinsame Grundlagen gehabt zu haben scheint, scheint es sehr problematisch, von grundlegenden Veränderungen bzw. Revolutionen in der Philosophiegeschichte zu sprechen. Darüber hinaus trägt die Uneinigkeit über die Triftigkeit der Argumente gegen die Grundsätze der großen Traditionen der Vergangenheit dazu bei, dass diese noch lebendig sind. Dies scheint ebenfalls mit der Existenz philosophischer Revolutionen unverträglich zu sein.
Im Zusammenhang mit der Vielzahl der philosophischen Positionen ist auch eine andere Quelle des Skeptizismus gegenüber der Erarbeitung einer Theorie der Philosophiegeschichte zu berücksichtigen. Eine solche Theorie soll Interpretationen der inhaltlichen Grundlagen verschiedener philosophischer Strömungen mit einbeziehen. Da es aber so viele philosophische Strömungen gegeben hat, ist es praktisch unmöglich, alle relevanten philosophischen Werke gut zu kennen und plausibel zu interpretieren. Außerdem lassen die verschiedenen Philosophien verschiedene Interpretationen zu. Die Uneinigkeit unter den Philosophen betrifft nicht nur die Resultate des theoretischen Philosophierens, sondern auch die Interpretationen der großen philosophischen Werke: es ist immer möglich, alternative überzeugende Interpretationen zu bieten. Angesichts also der Vielzahl der einflussreichen philosophischen Werke und der Möglichkeit, sie in verschiedener Weise zu interpretieren, scheint es, dass eine Theorie der abendländischen Philosophieentwicklung nur mit einer ganz unzulänglichen empirischen Unterstützung rechnen kann. Dies kann wohl den Verdacht erwecken, dass eine solche Theorie nicht in der Lage wäre, die Mindestanforderungen an gute philosophisch-historische Untersuchungen zu erfüllen, d.h. dass sie auf Großsprecherei hinauslaufen würde. Die Vielfalt der philosophischen Positionen und Interpretationen zusammen mit der immer wachsenden Spezialisierung der philosophisch-historischen Forschungen führt also dazu, dass die Möglichkeit einer brauchbaren Theorie der abendländischen Philosophieentwicklung von vielen Philosophen (implizit) in Frage gestellt wird.[8]
Nun lässt sich nicht bestreiten, dass die Unfähigkeit der Philosophen, einen breiten Konsens über die Lösungen der Grundprobleme ihrer Disziplin zu erreichen, eine anscheinend chaotische Mannigfaltigkeit von Ideen und Interpretationen hervorruft. Dies geschieht wohl aber nur auf den „oberen“ bzw. konkreteren Ebenen der Philosophiegeschichte. Ich werde zu zeigen versuchen, dass die ständige Uneinigkeit über die konkreten Ergebnisse der philosophischen Untersuchungen im Zusammenspiel mit anderen relevanten Faktoren eine strukturierende Rolle hinsichtlich der „tieferen“ bzw. der allgemeineren Ebenen der Philosophieentwicklung gespielt hat. Das anscheinende Chaos von Ideen auf der Oberfläche der abendländischen Philosophie verbirgt und bedingt zugleich die spezifische Ordnung mit, die der Entstehung neuer philosophischer Richtungen zukommt.
Wie lässt sich diese These belegen? Die Vielfalt philosophischer Strömungen und möglicher Interpretationen einflussreicher Texte scheint nicht viel Raum für eine plausible empirische Bestätigung der genannten These zu lassen. Tatsächlich ist es aber anders. Die Möglichkeit für verschiedene Interpretationen betrifft hauptsächlich konkrete Aspekte der philosophischen Theorien und nicht die allgemeinen Tendenzen, die sie zum Ausdruck bringen.[9]Offensichtlich ist Demokrit kein Holist und objektiver Idealist, Platon kein Materialist, Aristoteles kein Skeptiker, Kant kein metaphysischer Realist, der späte Wittgenstein kein semantischer Realist, Heidegger kein Positivist etc. Dies deutet darauf hin, dass die (plausiblen) Interpretationen philosophischer Texte sich wohl in gewissen Grenzen bewegen, die mit den allgemeinen Tendenzen im Denken des jeweiligen Philosophen zusammenhängen. Für eine Theorie der philosophischen Entwicklung sind eben die allgemeinen Tendenzen des philosophischen Denkens von entscheidender Bedeutung, und nicht etwa die konkreteren Aspekte der einschlägigen Philosophien.
In den folgenden Teilen dieser Arbeit werde ich zunächst auf Schnädelbachs Paradigmenkonzeption der Philosophiegeschichte und ihre Defizite eingehen, da sie die Existenz philosophischer Revolutionen ernst zu nehmen scheint. Dann werde ich versuchen, eine alternative Paradigmenkonzeption der Philosophiegeschichte zu erarbeiten, die dem Phänomen der philosophischen Revolutionen besser gerecht werden kann.
- Schnädelbachs Paradigmenmodell der Philosophiegeschichte
Ein wichtiger, aber meist unterschätzter Schritt zur Erschließung der Struktur der Philosophieentwicklung ist durch die Arbeiten einiger prominenter Gegenwartsphilosophen wie Rorty[10], Habermas[11], Apel[12] und Schnädelbach[13]vollzogen worden. Unter dem Einfluss von Kuhns berühmter Untersuchung über die Natur wissenschaftlicher Revolutionen[14] haben sie zu zeigen versucht, dass der Paradigmenbegriff auch auf die Geschichte der abendländischen Philosophie anwendbar sei und als Schlüssel zur Einsicht in ihre revolutionären Umwandlungen dienen könne. Insbesondere hat Schnädelbach Ansätze zu einer Konzeption der philosophischen Paradigmen erarbeitet. Dieser Konzeption zufolge sind die Wende zum Subjekt bei Descartes und die Sprachwende bei Wittgenstein als Paradigmenwechsel anzusetzen. Daher wird die Philosophiegeschichte als eine Abfolge von drei Paradigmen beschrieben. In der Antike und im Mittelalter herrscht das ontologische Paradigma vor. Descartes und seine Nachfolger ersetzen es mit dem Paradigma der Bewusstseinsphilosophie. Dieses Paradigma dominiert etwa bis zu Husserl und wird schließlich durch das Paradigma der Sprachphilosophie abgelöst.
Diesem Versuch, den durch Kuhn erarbeiteten Begriffsapparat auf die philosophische Entwicklung anzuwenden, hat die Mehrheit der Philosophen – insbesondere außerhalb Deutschlands – eher skeptisch gegenübergestanden. Indem sich jedoch die Kritiker der Auffassung, dass es philosophische Paradigmen gibt, fast immer nur einseitig darauf einließen, einige in ihr wirklich vorhandene Mängel hervorzuheben, konnten sie nicht umhin, ihren eigentlichen Vorzug zu verkennen. Unter allen bisherigen Konzeptionen der Philosophiegeschichte ist die Paradigmenkonzeption die einzige gewesen, die die Tatsache berücksichtigt, dass in der Geschichte der abendländischen Philosophie Umschwünge vorkommen, die an Bedeutung über die einzelnen vorherrschenden Traditionen hinausgehen und die gesamte Mainstream-Philosophie durchdringen. Derartige Entwicklungen sind z.B. eben die Wende zum Subjekt und die Wende zur Sprache. Dies sind Anzeichen dafür, dass es wohl in jeder Epoche der Philosophiegeschichte Ideen bzw. (spezifische) Paradigmen gibt, die sogar konkurrierenden philosophischen Richtungen zu Grunde liegen.
Das genannte Modell der Philosophieentwicklung weist jedoch einige wesentliche Defizite auf. Erstens scheint es einige der wichtigsten Umschwünge in der Philosophiegeschichte zu übersehen. Damit meine ich einerseits die von Hume und Kant ausgelöste Wende zu einer nicht-realistischen Auffassung der Erkenntnis, die schließlich zum Untergang der spekulativen Metaphysik führte.[15] Andererseits scheint Schnädelbachs Paradigmenmodell über die von dem späten Wittgenstein und Quine (Gadamer, Derrida…) vollzogene Wende zu einer nicht-realistischen Auffassung der Sprache hinwegzusehen, die schließlich der subjektbezogenen Erkenntnistheorie den Boden unter den Füßen wegzog.[16] Zweitens scheint Schnädelbachs Paradigmenkonzeption nicht in der Lage zu sein, den Phänomenen der Vielfalt und Uneinigkeit in der Philosophie gerecht zu werden[17], und das in zweifacher Hinsicht. Zum einen bleibt es unklar, wie es möglich ist, dass gegensätzliche Strömungen in der Philosophiegeschichte (z.B. Idealismus und Materialismus, Apriorismus und Empirismus, Post-Positivismus und Post-Strukturalismus) ein und dasselbe Paradigma teilen. Zum zweiten wird die Existenz anti-paradigmatischer Strömungen und Schulen, das heißt, Strömungen und Schulen, die gegen die jeweiligen philosophischen Paradigmen gerichtet sind, unbeachtet gelassen. Solche Strömungen und Schulen sind z.B. die der Sophisten und Skeptiker in der Antike oder die der Philosophen des Lebens und der Pragmatisten am Anfang des 20. Jahrhunderts. Drittens scheint Schnädelbachs Konzeption kein Potenzial zu besitzen, in eine echte Theorie der Philosophieentwicklung weiterentwickelt zu werden. Sie schildert nur ein sehr abstraktes Schema der Struktur der Philosophiegeschichte und scheint weit davon entfernt zu sein, eine Erklärung zu liefern, warum die abendländische Philosophie sich genau so entwickelt hat und nicht etwa anders. Angesichts dieser Defizite von Schnädelbachs Paradigmenkonzeption erweist es sich als notwendig, eine Theorie (der Struktur) der philosophischen Entwicklung aufzustellen, die sowohl den revolutionären Umschwüngen in der Philosophiegeschichte als auch der Vielfalt der philosophischen Positionen gerecht werden kann. Diese Theorie soll zweierlei leisten: sie soll zum einen zeigen, dass der Entstehung neuer philosophischer Richtungen eine Struktur zukommt. Zum zweiten soll sie diese Struktur plausibel erklären. Man soll also die Grundfaktoren der Entstehung einflussreicher Strömungen in den Griff bekommen und aus deren Zusammenspiel die Struktur der Philosophieentwicklung herleiten. Hier möchte ich kurz schildern, wie diese Aufgaben gelöst werden können.
- Die Grundfaktoren der Philosophieentwicklung
Es liegt auf der Hand, dass das Zustandekommen neuer philosophischer Strömungen durch viele heterogene Faktoren bedingt wird. Dazu zählen u.a. die Kreativität der Begründer philosophischer Schulen, die Fähigkeit deren Nachfolger Forschungsgemeinschaften zu gründen bzw. zu fördern, der jeweilige Kontext der Entwicklung sowohl der Philosophie als auch der anderen Disziplinen, die einschlägigen historischen Umstände bezüglich Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst etc. Je konkreter die Phänomene der Philosophiegeschichte sind, desto mehr Faktoren müssen zu deren Erklärung mit einbezogen werden. Es wäre ja naiv zu glauben, dass die konkreten Tatsachen der Philosophieentwicklung durch Bezug auf das Zusammenspiel von einigen Faktoren plausibel erklärt werden können. Die Theorie der Struktur der philosophischen Entwicklung zielt auf allgemeinere Aspekte dieser ab, die als solche in historisch sehr verschiedenen Kontexten wiederzuerkennen sind. Die Grundfaktoren der philosophischen Entwicklung sind also im Hinblick auf wesentliche Kennzeichen des Philosophierens herauszufinden. Dies können expliziert werden, indem zunächst die Hauptunterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Philosophie und den anderen Disziplinen in Betracht gezogen werden.
Fangen wir mit den Ähnlichkeiten an. Wie die anderen Disziplinen ist die Philosophie eine Forschungstätigkeit. Der Sinn jeder Forschungstätigkeit liegt ja in der Möglichkeit, im Hinblick auf bestimmte Fragestellungen (neue) Einsichten zu gewinnen. Das intersubjektive Kriterium dafür, ob und inwiefern eine Untersuchung von Erfolg gekrönt ist und in der Tat Einsichten erbringt hat, ist der Grad der Übereinstimmung unter den Fachleuten, die eine Zuständigkeit für die anhand der Untersuchung gegebenen Antworten aufweisen. Je höher ist der Grad der Übereinstimmung über die Ergebnisse der Forschungsarbeit, desto höher ist deren gesellschaftliche Anerkennung. Das Streben nach Anerkennung der jeweiligen Forschungsgemeinschaft weist der Übereinstimmung unter ihren Mitgliedern eine wichtige Rolle zu. Dies gilt insbesondere für die Philosophie. Da sich die Antworten auf philosophische Fragen meistens keiner empirischen Prüfung unterziehen und zugleich auch nicht auf ihren praktischen Nutzen hin bewerten lassen, ist der Grad der Übereinstimmung unter den Philosophen ein wichtiges Kriterium für den Wert der philosophischen Antworten bzw. für den Erfolg der philosophischen Untersuchungen. Die anhaltende Uneinigkeit über die Forschungsresultate in einer Disziplin bzw. in der Philosophie weist auf den Mangel an einem (beständigen) Fortschritt hin und kann somit die Sinnhaftigkeit der Versuche in Frage stellen, für eine Problemgruppe Antworten zu suchen. Daher ist das genannte intersubjektive Kriterium des Erfolges bei der Durchführung eines Forschungsprogramms ein Grundfaktor für die Entstehung neuer philosophischer Ideen.
Auch bezüglich ihrer Struktur ist die Philosophie anderen (fundamentalen) Disziplinen ähnlich, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einmal besteht sie aus verschiedenen Sub-Disziplinen wie Ontologie, Wissenschaftstheorie, Ethik etc. Zum zweiten ist sie gewissermaßen hierarchisch strukturiert, das heißt, einige philosophische Auffassungen sind in gewissem Sinne fundamental. Beispielsweise setzt die Auffassung, dass die Natur der Welt materiell ist, die Auffassung voraus, dass die Natur der Welt erkannt werden kann. Wenn die philosophische Tätigkeit keine hierarchische Struktur hätte, dann würden die einzelnen philosophischen Disziplinen sich unabhängig voneinander entwickeln. Dies ist aber nicht der Fall, wie sich aus den Konsequenzen der Wende zum Subjekt oder der Sprachwende ersehen lässt. Die praktische Philosophie ist einigermaßen auf die theoretische Philosophie angewiesen. Es gibt keine philosophischen Revolutionen, die nur oder hauptsächlich die praktische Philosophie betreffen. Wesentliche Änderungen in der praktischen Philosophie werden normalerweise von tiefgreifenden Änderungen in der theoretischen Philosophie hervorgerufen. Der Grund dafür liegt darin, dass die theoretische Philosophie (Ontologie, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie…) sowohl die legitimen Probleme als auch die legitimen Methoden des praktischen Philosophierens mitbestimmt. Beispielsweise ist die konsequenzreiche Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft durch die von Kant initiierte Kopernikanische Wende mit bedingt worden. In ähnlicher Weise sind Wittgensteins Bemerkungen über ethische Fragen im Tractatus Logico-Philosophicus wesentlich durch die in ihm vollzogene Sprachwende beeinflusst worden. Die hierarchische Struktur des Philosophierens kann also als ein Grundfaktor der Philosophieentwicklung angesehen werden.[18]
Nun wenden wir uns dem Hauptunterschied zwischen der Philosophie und den anderen Disziplinen inklusive Geistes- und Sozialwissenschaften zu. Im Gegensatz zu den anderen Disziplinen ist die Philosophie grundsätzlich reflexiv, das heißt, ihre eigene Möglichkeit bzw. der epistemische Status ihrer eigenen Ergebnisse kann von ihr selbst zur Sprache gebracht werden. Dementsprechend kann der Mangel an Erfolg bei der Durchführung des Programms einer philosophischen Disziplin in einer anderen philosophischen Disziplin untersucht werden. Beispielsweise ist der Misserfolg der spekulativen Metaphysik in der Erkenntnistheorie und in der Sprachphilosophie diskutiert worden. Diese reflexive Struktur der philosophischen Tätigkeit ist wohl ein anderer Grundfaktor der philosophischen Entwicklung.
Um noch einen Grundfaktor für die Entstehung neuer philosophischer Richtungen zu Tage zu fördern, wenden wir uns dem Hauptunterschied zwischen der Philosophie und den reifen Wissenschaften, d.h. Wissenschaften wie Physik und Chemie zu: Unter den Philosophen besteht ja eine wesentlich größere Uneinigkeit als unter den Wissenschaftlern.[19]Angesichts des ersten Grundfaktors spielt dieser Unterschied eine entscheidende Rolle für die Struktur und Dynamik der philosophischen Entwicklung. Meine These ist, dass der ständige Mangel an breitem Konsens über die im Rahmen der philosophischen Forschungsprogramme erarbeiteten Ergebnisse die wichtigste Triebkraft der abendländischen Philosophie gewesen ist und deren eigenartige Entwicklung mit bedingt hat.[20]
Von grundlegender Bedeutung für die Theorie der philosophischen Entwicklung ist es, dass die Wechselwirkung der genannten Grundfaktoren eine Unbeständigkeit und Verschiebbarkeit der Unterschiede zwischen den philosophischen Positionen zur Folge hat. Die Unfähigkeit der Philosophen, einhellige Konsense über die konkreten Lösungen der philosophischen Probleme zu erreichen, ja, z. T. sogar nur zu einer einhelligen Problemformulierung zu gelangen, fördert die Variabilität der philosophischen Positionen in weiten Grenzen, stimuliert die Suche nach Synthesen[21]zwischen ihnen und begünstigt deren Verflochtenheit mit außerphilosophischen Vorstellungen aus den Bereichen der Wissenschaft, Religion, Politik usw. Daraus werden einige der Schwierigkeiten erklärlich, vor denen die Bemühungen um Aufstellung einer brauchbaren Theorie der philosophischen Entwicklung stehen. Die Struktur der Philosophieentwicklung, die sich aus dem Zusammenspiel der genannten vier Faktoren ergibt, ist wohl vage bzw. nicht leicht zu identifizieren. Die begrifflichen Unterscheidungen, mit denen sie rekonstruiert werden soll, können unmöglich (absolut) scharf sein, vielmehr sind sie immer der jeweiligen Situation anzupassen.
Sicherlich gibt es auch andere wichtige Faktoren der philosophischen Entwicklung, die in Betracht gezogen werden müssen, wenn man gewisse Aspekte der Entstehung neuer philosophischer Tendenzen erklären möchte. Aber die genannten vier Faktoren reichen aus, um die fundamentalen strukturellen Kennzeichen der bisherigen Entwicklung der abendländischen Philosophie in den Griff zu bekommen. Deren Zusammenspiel bringt in jeder Epoche der Philosophiegeschichte eine ähnliche Struktur der Entstehung und der Entwicklung einflussreicher Richtungen hervor, die wegen der anscheinend chaotischen Vielfalt von philosophischen Ideen unsichtbar geblieben ist.[22]
- Die Natur philosophischer Paradigmen
Die abendländische Philosophie taucht als Untersuchung der Prinzipien der Realität auf. Von Haus aus ist jede Forschungstätigkeit hierarchisch strukturiert, das heißt, sie gründet sich auf bestimmten Annahmen, die den paradigmatischen Rahmen des jeweiligen Forschungsprogramms festsetzen. Dementsprechend setzen die Untersuchungen der ersten Philosophen voraus, dass es Prinzipien der gesamten Realität bzw. Natur gibt, die sich erkennen und zur Sprache bringen lassen. Die abendländische Philosophie entsteht also als Forschungstätigkeit im Rahmen eines bestimmten Paradigmas, nämlich des metaphysischen Paradigmas. Es ist also zunächst zu klären, was der Begriff des philosophischen Paradigmas besagen soll.
Die Defizite von Schnädelbachs Paradigmenmodell der Philosophieentwicklung rühren wohl daher, dass die Natur philosophischer Paradigmen unzulänglich erfasst wird. In einem neuen Aufsatz hat Paul Hoyningen-Huene plausibel gezeigt, dass drei Hauptbedeutungen des Terminus Paradigma zu unterscheiden sind: „einmal den engen Paradigmenbegriff Kuhns, dann den weiten Paradigmenbegriff Kuhns und schließlich einen allgemeinen Paradigmenbegriff“.[23] Paradigma im engen Sinn ist eine exemplarische Lösung eines konkreten wissenschaftlichen Problems. Paradigma im weiten Sinn ist „die gesamte Konstellation von Überzeugungen, Werten, Techniken usw., die die Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft teilen“.[24] Paradigmen im engen Sinn sind konstitutiv für Paradigmen im weiten Sinn. Kuhns Ansicht nach stützen sich alle Konsense in den Grundlagendisziplinen auf exemplarische Lösungen konkreter wissenschaftlicher Probleme. Da es normalerweise keine solchen Lösungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften gibt, verwendet man den Paradigmenbegriff in diesen Disziplinen in einem allgemeineren Sinn. Hoyningen-Huene definiert ihn folgenderweise:
In dieser allgemeinen Bedeutung ist mit „Paradigma“ eine grundsätzliche Orientierung gemeint, die sich einer gewissen allgemeinen Anerkennung erfreut und die in verschiedenen konkreten Anwendungsfällen zum Ausdruck kommt. Wie weit die genannte allgemeine Anerkennung reicht und auf welche verschiedenartigen Elemente sie sich bezieht, ist auf einer abstrakten Ebene nicht festgestellt und kann ja nach Kontext spezifiziert werden. Insbesondere fehlt beim allgemeinen Paradigmenbegriff der Bezug auf konkrete Fälle als konstitutive Elemente des Konsenses, also auf Paradigmen im engen Sinn, wie das bei Kuhns weitem Paradigmenbegriff der Fall ist.[25]
Überall also, wo Konsense unter Fachleuten bestehen, und diese Konsense nicht auf exemplarischen Problemlösungen basieren, kann man den allgemeinen Paradigmenbegriff gebrauchen. Das ist auch der Grund, dass Ausdrücke wie ‘Paradigma der Außenpolitik’ oder ‘Paradigma der Marketing’ verwendet werden.
Nun ist es offensichtlich, dass weder der enge noch der weite Paradigmenbegriff auf das Ganze der Philosophieentwicklung produktiv angewandt werden können, weil es keine universell anerkannten Lösungen konkreter philosophischer Probleme gegeben hat. Wenn Rorty, Habermas und Schnädelbach von philosophischen Paradigmen bzw. Paradigmenwechseln sprechen, verwenden sie wohl den allgemeinen Paradigmenbegriff. Nun kommt alles darauf an, wie der allgemeine Paradigmenbegriff hinsichtlich der Philosophiegeschichte spezifiziert wird, und das heißt, was unter ‘grundsätzlicher Orientierung in der Philosophie’ verstanden wird. Die eben erwähnten Denker bestimmen die Paradigmen in der Philosophiegeschichte, je nachdem welche philosophischen Probleme im Zentrum des Interesses stehen, und nicht angesichts dessen, welche philosophische Probleme als im Prinzip lösbar angesehen werden. Da z.B. die erkenntnistheoretischen Probleme als zentral für die Philosophie von Descartes, Kant und Husserl betrachtet werden, sollen diese Philosophen dasselbe Paradigma teilen, ungeachtet dessen, dass Descartes – im Gegensatz zu Kant und Husserl – das Programm der traditionellen Metaphysik für legitim hält. Wie erwähnt, erscheint dies mir unplausibel. Ich würde behaupten, dass die genannte Art und Weise der Spezifizierung grundsätzlicher Orientierungen in der Philosophiegeschichte unzulänglich ist und den Defiziten von Schnädelbachs Paradigmenmodell zu Grunde liegt.
Die Mängel der Paradigmenkonzeption lassen sich ausgleichen, indem man den Unterschied zwischen den Paradigmen in den reifen Wissenschaften und denen in der Philosophie explizit macht. Im Gegensatz zu jenen haben die philosophischen Paradigmen mit exemplarischen Problemlösungen nichts zu tun. Sie enthalten nur gewisse grundlegende Annahmen und spezifische Fragestellungen. Deswegen sind die philosophischen Paradigmen viel abstrakter als die Paradigmen in den reifen Wissenschaften. Sie sind wie sehr abstrakte Forschungsprogramme, die aus gewissen Grundproblemen und deren Voraussetzungen bestehen. Nehmen wir z.B. das metaphysische Paradigma. Es enthält die folgenden Annahmen:
- Es gibt eine unabhängige vom menschlichen Bewusstsein Realität, das heißt, eine Realität an sich;
- Die Prinzipien dieser Realität lassen sich eindeutig erkennen und formulieren;
- Metaphysik und Erkenntnistheorie bilden den Hintergrund aller Diskussion über axiologische Fragen.
Diese Grundannahmen beinhalten die folgenden Fragestellungen:
- Welche sind die Prinzipien der gesamten Realität?
- Wie kann man diese Prinzipien adäquat erkennen?
- Welche Konsequenzen für die praktische Philosophie sind daraus zu ziehen?
Diese Annahmen und Fragestellungen konstituieren ein abstraktes paradigmatisches Forschungsprogramm, das von sehr verschiedenen Denkern wie Platon und Demokrit, Aristoteles und Epikur, Augustinus und Thomas von Aquin, Spinoza und Leibniz, Berkeley und Hegel akzeptiert und verteidigt wurde. Es ist offensichtlich, dass, obwohl diese Denker sehr verschiedene Positionen vertraten, alle sie einig waren, dass die Fragen nach den Grundprinzipien der Realität eindeutig beantwortet werden könnten. Also es gab einen breiten Konsens unter den meisten Denkern von Platon bis Hegel, dass das Forschungsprogramm der traditionellen Metaphysik legitim sei. Auf Grund dieser Tatsache lässt sich behaupten, dass der Philosophiegeschichte von Thales bis Hegel eine grundsätzliche Orientierung, das heißt, ein Paradigma im allgemeinen Sinn, innewohnt.
Nun gilt es, den Charakter der Grundannahmen, die den Inhalt der philosophischen Paradigmen ausmachen, näher zu bestimmen. Ihre Funktion besteht darin, die Grundfragen des philosophischen Denkens festzulegen. Welche philosophischen Fragestellungen als legitim gelten, hängt grundsätzlich davon ab, wie die Beziehungen zwischen Sprache, Bewusstsein und Realität angesehen werden. Die Auffassungen dieser Beziehungen bestimmen den Möglichkeitsraum des philosophischen Denkens. Beispielsweise beinhalten die Grundannahmen des metaphysischen Paradigmas realistische Auffassungen hinsichtlich sowohl des erkennenden Bewusstseins als auch der kognitiven Sprache: man kann die Prinzipien der objektiven Realität erkennen und sie eindeutig zur Sprache bringen. Es ist deutlich, dass die Prinzipien der Realität im Rahmen des metaphysischen Paradigmas als unabhängig von Erkenntnis und Sprache betrachtet worden sind. Denken und Sprache sind in der Lage, unabhängig von ihnen existierende Entitäten zu repräsentieren. Dabei ist zu beachten, dass der Realismus hinsichtlich der Erkenntnis vom Realismus hinsichtlich der Sprache zu unterscheiden ist. Beispielsweise umfasst das Paradigma der Subjektphilosophie, wie wir sehen werden, sowohl idealistische Auffassungen der Erkenntnis als auch realistische Auffassungen der Sprache. Die Grundmöglichkeiten des philosophischen Denkens sind also auf das Verständnis der Natur der Beziehungen zwischen Sprache, Bewusstsein (Denken) und Realität angewiesen. Die Auffassungen dieser Beziehungen konstituieren den Inhalt der philosophischen Paradigmen.
- Die Struktur der innerparadigmatischen Philosophieentwicklung: Sub-Paradigmen und anti-paradigmatische Bewegungen
Es ist bemerkenswert, dass die Entwicklung der Philosophie während der Herrschaft eines Paradigmas weit davon entfernt ist, chaotisch abzulaufen. Das Zusammenspiel der genannten vier Grundfaktoren hat zur Folge, dass der Entstehung neuer Philosophien eine Struktur zukommt. Kehren wir zum Anfang des abendländischen Philosophierens zurück, um diese Struktur schematisch darzustellen. Die philosophischen Paradigmen können den konkreten philosophischen Praktiken zeitlich nicht vorausgehen, da sie sonst konkrete Philosophien sein würden. Und von Natur aus sind sie ja keine konkreten Philosophien. Dies ist durch den Faktor der Uneinigkeit mit bedingt. Konkrete philosophische Auffassungen würden den wissenschaftlichen Paradigmen sehr ähnlich sein, wenn sie einen breiten Konsens stiften könnten. Der wesentliche Unterschied zwischen den wissenschaftlichen und den philosophischen Paradigmen beinhaltet, dass diese nur als Voraussetzungen konkreter Philosophien existieren können. d.h. sie können nur als relativ unselbständige Momente konkreter Philosophien auftreten. ‘Unselbständig’ verweist ja darauf, dass die philosophischen Paradigmen nur als Momente konkreter Auffassungen existieren können. ‘Relativ’ verweist darauf, dass sie Momente verschiedener Philosophien sein können. Sie können gegensätzlichen philosophischen Strömungen innewohnen. In diesem Sinne sind sie also relativ autonom gegenüber den konkreten philosophischen Auffassungen. Die relative Unselbständigkeit der Paradigmen kennzeichnet das Wesen ihrer Beziehungen zu den verschiedenen Philosophien, von denen sie verkörpert werden. Dementsprechend wird das metaphysische Paradigma durch die konkreten Auffassungen der jonischen Denker erstmals realisiert. Ihre Lösungen der paradigmatischen Probleme konkretisieren auf besondere Weise den Inhalt des Paradigmas. Die Uneinigkeit unter den vorsophistischen Philosophen bezüglich der Lösungen der paradigmatischen Probleme löst zunächst einmal die reflexive Dimension des Philosophierens aus: Fragen im Hinblick auf die Quellen der Erkenntnis und die Ausdrucksfähigkeit der Sprache werden im Prozess des Philosophierens mit einbezogen. Somit wird der Inhalt des metaphysischen Forschungsprogramms wesentlich erweitert. Dies umfasst Fragestellungen nicht nur hinsichtlich der Prinzipien der gesamten Realität, sondern auch hinsichtlich der Prinzipien der verschiedenen Regionen der Realität, nämlich: Erkenntnis, Leben, Moral etc.
Nun ermöglicht die reflexive Dimension des Philosophierens im Zusammenhang mit der ständigen Uneinigkeit unter den Philosophen das Zustandekommen anti-paradigmatischer Bewegungen wie die der Sophisten und der Skeptiker, die über den paradigmatischen Rahmen der Mainstream-Philosophie hinausgehen und die Grundannahmen dieser in Frage stellen. Die anti-paradigmatischen Bewegungen unterscheiden sich von den pro-paradigmatischen Strömungen in mehreren Hinsichten. Erstens setzen sie die Existenz verschiedener pro-paradigmatischer Strömungen voraus, da sie normalerweise als Reaktionen auf die anhaltende Uneinigkeit bezüglich der Lösungen der paradigmatischen Probleme entstehen. Zweitens ist es ein Hauptkennzeichen der anti-paradigmatischen Bewegungen, dass sie keine wirklichen Voraussetzungen schaffen, unter denen die Philosophen eine breite Übereinstimmung erreichen könnten, d.h. kein alternatives Forschungsprogramm bieten, in dessen Rahmen die Philosophie als im Prinzip fortschrittsfähige Disziplin wieder gerechtfertigt werden könnte. Drittens sind die anti-paradigmatischen Bewegungen nicht so verbreitet und einflussreich wie die pro-paradigmatischen Strömungen. Sie sind üblicherweise keine Mainstream-Bewegungen in der Philosophie.
Der Mangel an Konsens über die Geltung der Argumente, die durch die verschiedenen philosophischen Parteien vorgebracht werden, ermöglicht die nachhaltige Koexistenz sowohl von konkurrierenden Ansichten innerhalb eines Paradigmas als auch von pro- und anti-paradigmatischen Traditionen. Der Grund dafür ist, dass die Anhänger der einzelnen Schulen und Strömungen zur Auffassung tendieren, es handle sich bei den Meinungsverschiedenheiten im Grunde um Irrtümer des Opponenten. Durch die anti-paradigmatischen Bewegungen herausgefordert, beginnen die Anhänger des Paradigmas einen Teil seiner impliziten Voraussetzungen zu thematisieren sowie neue Theorien und Methoden zu entwickeln, die jene untermauern sollen. So entstehen neue einflussreiche Traditionen. Beispiele dafür sind etwa die Traditionen des Platonismus und Peripatetismus in der Antike und die der Phänomenologie und der analytischen Philosophie am Anfang des 20. Jahrhunderts.[26] Demokrit, Platon, Aristoteles und Epikur bringen das metaphysische Forschungsprogramm zur Reife. Deren Lösungen der paradigmatischen Probleme werden von verschiedenen Gruppen von Philosophen als exemplarisch angesehen; sie liegen der Entstehung echter philosophischer Schulen zu Grunde. Platon und Demokrit schlagen z.B. sehr verschiedene Lösungen der Grundprobleme des metaphysischen Paradigmas vor und schaffen somit die Grundlagen sehr verschiedener metaphysischer Traditionen: die eine objektiv-idealistisch und die andere materialistisch. Dasselbe gilt mutatis mutandis für Kant und August Comte, deren Lösungen der Grundprobleme des Paradigmas der Subjektphilosophie der Tradition des (Neo-)Kantianismus bzw. des Positivismus zu Grunde liegen. Die einflussreichen Lösungen paradigmatischer Probleme lassen sich Sub-Paradigmen nennen, denn sie fungieren als exemplarische Problemlösungen innerhalb der von ihnen inspirierten Strömungen. Diese Strömungen kennzeichne ich als sub-paradigmatisch. Die Sub-Paradigmen machen die inhaltlichen Grundlagen der sub-paradigmatischen Strömungen aus. Sie bestehen aus allgemein konzipierten Lösungen der paradigmatischen Probleme, die die allgemeine Richtung der Forschungsarbeit innerhalb der jeweiligen sub-paradigmatischen Strömungen festsetzen. Die Sub-Paradigmen lassen also viel Raum für Interpretationen, Konkretisierungen und Systematisierungen. Verschiedene Interpretationen gewisser Lösungen der paradigmatischen Probleme können zur Entstehung verschiedener Schulen innerhalb der jeweiligen sub-paradigmatischen Strömung führen. Jedes philosophische Paradigma wird durch sub-paradigmatische Schulen, Strömungen, Richtungen etc. verkörpert. Die philosophischen Paradigmen existieren also nur als relativ unselbständige Momente sub-paradigmatischer Philosophien. Infolgedessen entstehen neue Paradigmen nur durch neue sub-paradigmatische Strömungen.
Es ist erwähnenswert, dass die Ausdifferenzierung der philosophischen Paradigmen in Sub-Paradigmen nicht chaotisch ist. Beispielsweise sind einige sub-paradigmatische Strömungen eher naturalistisch, andere sind eher anti-naturalistisch. Die Opposition zwischen pro- und anti-naturalistischen Tendenzen des philosophischen Denkens läuft durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch. Zeugnis dafür legen die Debatten zwischen Materialisten und Idealisten, Empiristen und Rationalisten, Positivisten und Traszendentalisten, Neo-Positivisten und Phänomenologen, Post-Positivisten und Hermeneutikern, Utilitaristen und Deontologen ab. Die genannte Opposition lässt sich in mehreren Hinsichten spezifizieren. Im Hinblick auf die gesamte Realität behaupten die Naturalisten, dass alle (konkreten) Entitäten physikalische Dinge und Prozesse sind oder auf solchen Dingen und Prozessen basieren. Hinsichtlich der Erkenntnis sind die Naturalisten Gegner der apriorischen Erkenntnis und Befürworter der Methoden der empirischen Wissenschaften. Auf dem Gebiet der axiologischen Disziplinen läuft die Position der Naturalisten darauf hinaus, dass die axiologischen Objekte auf empirisch feststellbare Tatsachen zurückzuführen sind. Die Opposition zwischen pro- und anti-naturalistischen Tendenzen tritt also in verschiedenen Formen und Aspekten auf. Naturalismus in der Erkenntnistheorie impliziert beispielsweise noch nicht Naturalismus in der Metaphysik und vice versa.[27] Darüber hinaus tauchen Philosophien auf, die nicht eindeutig pro- oder anti-naturalistisch sind. Infolgedessen gibt es so viele verschiedene Philosophien in der Geschichte des abendländischen Denkens, dass man den Eindruck gewinnt, die Philosophieentwicklung sei chaotisch. Dazu trägt auch bei, dass gewisse sub-paradigmatische Strömungen so radikal verschieden voneinander erscheinen, dass man leicht übersehen kann, dass sie Lösungen derselben paradigmatischen Probleme anbieten und somit ein gemeinsames Paradigma teilen. Dies gilt insbesondere für die Gegenwartsphilosophie, die sich durch die Kluft zwischen der analytischen Philosophie und der Kontinentalphilosophie charakterisieren lässt.
Die Konzeption der philosophischen Paradigmen und Sub-Paradigmen stützt sich auf die Hypothese, dass es Annahmen und Probleme gibt, die von verschiedenen, ja sogar gegensätzlichen philosophischen Strömungen geteilt worden sind. In der heutigen Philosophie herrscht wohl die Tendenz vor, Unterschiede (unter Dingen, Prozessen, Auffassungen, Bedeutungen etc.) in den Vordergrund zu rücken, und nicht etwa Ähnlichkeiten oder Identitäten. Die Nachfolger von Denkern wie dem späten Wittgenstein, Quine und Derrida würden vielleicht skeptisch gegenüber der These sein, dass verschiedene und sogar gegensätzliche Richtungen in der Philosophie dieselben bzw. sehr ähnliche Probleme zu lösen versuchen. Viele postmoderne Philosophen würden das Paradigmenherangehen an der Philosophiegeschichte wohl in Frage stellen, da dies, statt bedeutende Differenzen zwischen vermeintlich gleichen Positionen zu Tage zu fördern, wichtige Gemeinsamkeiten zwischen angeblich radikal verschiedenen Traditionen hervorzuheben versucht. Wie lässt sich also die Hypothese verteidigen, dass (radikal) verschiedene philosophische Strömungen gemeinsame Annahmen teilen und gemeinsame Probleme zu lösen versuchen? Aus offensichtlichen Gründen muss ich mich hier mit einer kurzen Antwort auf diese Frage begnügen. Die genannte Hypothese lässt sich sowohl logisch als auch pragmatisch verteidigen. Die Tatsache, dass verschiedene philosophische Strömungen konkurriert haben und unverträglich miteinander gewesen sind, deutet darauf hin, dass sie gleiche oder sehr ähnliche Grundprobleme zu lösen versucht haben. Wenn die Vertreter verschiedener Strömungen sich mit ganz verschiedenen Problemen beschäftigt hätten, dann wären diese Strömungen nicht unverträglich miteinander gewesen. Die Unverträglichkeit der philosophischen Strömungen impliziert die Existenz von (Annahmen und) Problemen, die von den Befürwortern der Strömungen geteilt worden sind. Dies gilt auch für die Inkompatibilität zwischen den pro- und den anti-paradigmatischen Strömungen in den jeweiligen Epochen der Philosophiegeschichte, wenn auch auf einer abstrakteren Ebene. Während die Unverträglichkeit zwischen den verschiedenen sub-paradigmatischen Strömungen sich auf die Lösungen der paradigmatischen Probleme bezieht, betrifft die Inkompatibilität zwischen den sub- und den anti-paradigmatischen Bewegungen die Wahrheit der Grundannahmen, die für das jeweilige Paradigma konstitutiv sind. In Folge der Entstehung anti-paradigmatischer Bewegungen werden die einschlägigen paradigmatischen Grundannahmen, die als solche von den verschiedenen sub-paradigmatischen Strömungen geteilt werden, in Frage gestellt. Somit werden sie als (implizite) Lösungen gewisser Probleme angesehen. Die Unverträglichkeit zwischen den pro- und den anti-paradigmatischen Richtungen geht daraus hervor, dass sie, obwohl nicht explizit, unvereinbare Lösungen dieser Probleme bieten. Z.B. Platonismus und Skeptizismus sind inkompatibel, da sie verschiedene Lösungen des fundamentalen Problems der Erkennbarkeit der Realität implizieren. Es ist aber zu berücksichtigen, dass die paradigmatischen Grundannahmen keineswegs als exemplarische Problemlösungen fungieren können, da sie nur als relativ unselbständige Momente der Lösungen der paradigmatischen Probleme gegeben sind. Man kann sie ja von diesen Lösungen abstrahieren und dann sie selbst als Problemlösungen betrachten bzw. in Frage stellen, aber sie sind keinesfalls selbständige Problemlösungen, sondern nur relativ unselbständige Momente der Sub-Paradigmen.
Die Hypothese, dass gegensätzliche philosophische Strömungen gemeinsame Auffassungen bzw. Fragestellungen teilen, lässt sich auch auf pragmatische Weise verteidigen. Die Hypothese ist ernst zu nehmen, da sie gut funktioniert. Das heißt: sie ermöglicht eine übersichtliche und plausible Rekonstruktion der Entstehung neuer Richtungen in der abendländischen Philosophie. Die Begriffe, mit denen diese theoretische Rekonstruktion vollzogen wird: nämlich Paradigma, Sub-Paradigma, anti-paradigmatische Bewegung, methodologische Revolution, paradigmatische Revolution etc., beziehen sich nicht auf klar abgrenzbare Entitäten in der Wirklichkeit selbst, sondern sind als Instrumente zu betrachten, mit deren Hilfe eine brauchbare Theorie der Philosophiegeschichte aufgestellt werden kann. Wenn die Theorie empirisch gut funktioniert, dann kann man sie nur durch eine andere Theorie widerlegen, und nicht etwa mit rein empirischen oder rein apriorischen Einwänden.
- Die Natur philosophischer Revolutionen
Vor dem Hintergrund der Wissenschaftsentwicklung als Vorbild für eine erfolgreiche intellektuelle Tätigkeit, über deren Ergebnisse eine breite Übereinstimmung besteht, führt die andauernde Uneinigkeit unter den Philosophen zu paradigmatischen Krisen. Diese werden durch revolutionäre Wandlungen der Art zu philosophieren gelöst. Eine konstitutive Rolle spielt dabei die Erklärung, die für den andauernden Mangel an breiter Übereinstimmung gegeben wird, der bei den vorrevolutionären Philosophen im Hinblick auf die von ihnen erarbeiteten Ergebnisse festzustellen sei. Der Charakter der philosophischen Revolutionen wird eben durch den Charakter der jeweiligen Erklärung geprägt. Es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten, der anhaltenden Uneinigkeit bezüglich der Lösungen der paradigmatischen Probleme auf den Grund zu gehen. Einerseits kann man den unaufhörlich bestehenden Dissens auf den Mangel an einer adäquaten philosophischen Methodologie zurückführen, mit deren Hilfe das dominante Programm verwirklicht werden solle. Andererseits kann der relativ niedrige Grad der Übereinstimmung unter den Philosophen dadurch erklärt werden, dass das jeweilige dominante Forschungsprogramm von Grund auf verkehrt ist. Diese beiden Möglichkeiten bringen zwei verschiedene Arten von philosophischen Revolutionen mit sich. Schon hier deutet sich eine erste Bruchlinie zwischen Schnädelbachs Paradigmenmodell der Philosophiegeschichte und der von uns angestrebten Theorie der Struktur der philosophischen Entwicklung an. Ich stimme Schnädelbach zwar zu, dass die Wende zum Subjekt bei Descartes und die Wende zur Sprache bei Frege, Russell und dem frühen Wittgenstein als revolutionäre Umwandlungen in der Philosophie zu charakterisieren sind. Einerseits ändern sie den Hauptgegenstand des Philosophierens, indem sie das erkennende Bewusstsein bzw. die Sprache ins Zentrum der Philosophie rücken. Andererseits wechseln sie die Methoden des Philosophierens. So weit, so gut. Schnädelbach nimmt nun an, dass diese beiden Umwandlungen die einzigen Revolutionen in der Philosophie gewesen seien. Er betrachtet alle philosophischen Revolutionen als Paradigmenwechsel, da er ohne weiteres die Kuhnsche Auffassung der wissenschaftlichen Revolutionen auf die Philosophieentwicklung anwendet. Infolgedessen setzt er die Wende zum Subjekt und die Wende zur Sprache als Paradigmenwechsel an.
Ich denke, dass diese drei Annahmen, auf die Schnädelbachs Paradigmenkonzeption beruht, als nicht überzeugend zurückzuweisen sind. Erstens bricht die Wende zum Subjekt bei Descartes nicht mit den Grundannahmen der metaphysischen Tradition. Keineswegs verwirft sie die paradigmatische Auffassung, dass die Prinzipien der Realität an sich erkennbar sind. Vielmehr bietet Descartes eine neue Methode an, das Programm der metaphysischen Tradition durchzuführen. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die Sprachwende bei Frege und Russell. Sie verwirft das Programm der epistemologischen Tradition nicht. Vielmehr bietet sie neue Methoden an, dieses Programm zu verwirklichen. Das wurde von Richard Rorty[28] und Habermas[29] überzeugend gezeigt. Das „Manifest des Wiener Kreises“ weist zunächst deutlich darauf hin, dass die revolutionären Werke von Frege, Russell und dem jungen Wittgenstein von den Neo-Positivisten zwar nicht als eine Zurückweisung der erkenntnistheoretischen Untersuchungen interpretiert wurden, sondern als eine methodologische Umwälzung der empiristischen Tradition.[30] Also es ist unplausibel, die epistemologische Wende bei Descartes und die linguistische Wende bei Frege, Russell und dem frühen Wittgenstein als Paradigmenwechsel in der Philosophiegeschichte zu charakterisieren. Vielmehr sind sie tiefgehende methodologische Transformationen der jeweiligen pro-paradigmatischen Traditionen. Da sie die Grundlagen der vorherrschenden Forschungsprogramme aufbewahren, sind sie nicht paradigmatische, sondern vielmehr methodologische Revolutionen.
Normalerweise gehen die methodologischen Revolutionen in der Philosophie den Paradigmenwechseln voraus. Da die methodologischen Revolutionen das Problem der Uneinigkeit üblicherweise nicht lösen, kommt es dann unumgänglich zu paradigmatischen Revolutionen. Die methodologische Wende zum Subjekt, die von Descartes in Unterstützung des metaphysischen Paradigmas vorgenommen wurde, wurde durch die Werke von Hume und Kant in eine Revolution gegen dieses Paradigma verwandelt. Entsprechend kam es nach Hegels Tod zu einem neuen Paradigma in der Philosophie. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die Werke des späten Wittgenstein, von Quine, Heidegger, Gadamer, und Derrida, die die Wende zur Sprache in eine paradigmatische Revolution gegen die Philosophie des Subjekts radikalisierten. Die Wende zum Subjekt und die Wende zur Sprache begannen also als methodologische Revolutionen in Unterstützung des jeweiligen dominanten Forschungsprogramms und wurden später in paradigmatische Revolutionen gegen eben dieses Forschungsprogramm umgewandelt. Man sieht eine strenge und nicht zufällige Analogie zwischen dem geschichtlichen Werdegang der Wende zum Subjekt und dem geschichtlichen Werdegang der Wende zur Sprache, die wohl auf eine Struktur der philosophischen Entwicklung hindeutet.
Wie lässt sich aber die Tatsache erklären, dass die bisherigen Revolutionen in der westlichen Philosophie ihrer Natur nach Wenden gewesen sind? Die methodologischen Revolutionen sind Wenden zu dem einschlägigen Medium der Repräsentation der Realität – Bewusstsein oder Sprache – gewesen. Die paradigmatischen Revolutionen sind Wenden von realistischen zu nicht-realistischen Auffassungen des jeweiligen Vehikels der Repräsentation der Realität, d.h. des Bewusstseins bzw. der Sprache gewesen. Die beiden Arten philosophischer Revolutionen sind ja zwei Arten philosophischer Umschwünge. Dies ergibt sich wohl aus dem Charakter der Grundannahmen, die den Inhalt der philosophischen Paradigmen mit konstituieren, in Konjunktion mit den Grundfaktoren der Philosophieentwicklung. Dass die Auffassungen der Relationen zwischen Sprache, Bewusstsein und Realität konstitutiv für die philosophischen Paradigmen gewesen sind, hängt auch damit zusammen, dass die Uneinigkeit unter den Philosophen eine entscheidende Rolle in der Philosophiegeschichte gespielt hat. Die Meinungsverschiedenheiten werden am ehesten durch (unüberwindbare) Schwierigkeiten erklärt, die bei der Begründung philosophischer Positionen auftauchen, und diese ihrerseits durch (unüberwindbare) Schwierigkeiten, die der Repräsentation der Wirklichkeit innewohnen. Der andauernde Mangel an breiter Übereinstimmung ist also einer der Hauptgründe dafür, dass die Ansichten über die (Un)Möglichkeiten des Denkens und/oder der Sprache, die Wirklichkeit zu repräsentieren, für den Gehalt philosophischer Paradigmen und Revolutionen konstitutiv gewesen sind. Wie schon erwähnt, gründen sich die beiden Arten philosophischer Revolutionen in zwei verschiedenen Möglichkeiten, die Meinungsverschiedenheiten, die sich aus den der Repräsentation der Realität zukommenden Schwierigkeiten ergeben, zu überwinden. Im Hinblick auf die Natur der paradigmatischen Grundannahmen, die sich auf die Relationen von Sprache, Bewusstsein und Realität beziehen, lassen sich diese beiden Möglichkeiten etwas ursprünglicher begreifen. Die eine Möglichkeit ist, das jeweilige Medium der Repräsentation ins Zentrum der Philosophie zu rücken, um die Möglichkeit der Repräsentation der von dem Medium unabhängigen Realität zu gewährleisten. Diese Möglichkeit liegt den methodologischen Revolutionen zu Grunde, sofern diese auf Wenden zu dem jeweiligen Vehikel der Repräsentation der Wirklichkeit hinauslaufen. Die andere Alternative ist, die Möglichkeit der Repräsentation einer von dem Vehikel der Repräsentation unabhängigen Wirklichkeit zurückzuweisen und eine nicht-realistische Auffassung dessen zu verteidigen. Diese Möglichkeit wird durch die paradigmatischen Revolutionen realisiert, sofern diese auf Wenden von realistischen zu nicht-realistischen Auffassungen der Vehikel der Repräsentation hinauslaufen. All das erklärt wohl die Tatsache, dass jede Revolution in der Philosophiegeschichte entweder als eine Wende zu dem jeweiligen Medium der Repräsentation der Wirklichkeit oder als eine Wende von realistischen zu nicht-realistischen Auffassungen des einschlägigen Mediums der Repräsentation vollzogen worden ist.
Einige Jahrzehnte nach Hegels Tod wurde das metaphysische Paradigma durch das Paradigma der Subjektphilosophie ersetzt. Die Prinzipien dieses Paradigmas, die durch Hume und Kant formuliert und sowohl von den Neo-Kantianern als auch von den Positivisten geteilt wurden, sind folgenderweise zu charakterisieren:
- Die subjektbezogenen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis lassen sich eindeutig erkennen und sprachlich ausdrücken;
- Die Bedingungen, unter denen Gegenstände erkannt werden können, sind Bedingungen, unter denen Gegenstände an sich nicht erkannt werden können;
- Jenseits der Grenzen der möglichen Erfahrung lassen sich keine realen Objekte erkennen;
- Die transzendente Metaphysik ist unmöglich;
- Erkenntnistheorie bildet die Grundlage des erfolgreichen Philosophierens.
Diese Auffassungen und die Fragestellungen, die sie beinhalteten, machten eine grundsätzliche Orientierung in der abendländischen Philosophie aus, die bis nach dem 2. Weltkrieg herrschte. Im Hinblick auf das kognitive Bewusstsein ist diese Orientierung grundsätzlich nicht-realistisch. Kants Kopernikanische Wende bringt den Sinn des Paradigmas deutlich zum Ausdruck. Gleichzeitig bewahrt das Paradigma der Subjektphilosophie die realistische Auffassung der Sprache: diese ist in der Lage, unabhängige von ihr Entitäten – Ideen oder Tatsachen in der empirisch gegebenen Wirklichkeit – eindeutig darzustellen. Die Vertreter der Subjektphilosophie tendieren also zu der Auffassung, dass eine nicht-realistische Theorie der Erkenntnis die Meinungsverschiedenheiten in der Philosophie wohl überwinden kann, da sie meistens aus Irrtümern hinsichtlich der Natur der Relation zwischen Bewusstsein und Realität hervorgehen und nichts mit dem Realismus bezüglich der Sprache zu tun haben. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, den Charakter des Verhältnisses zwischen dem neuen und dem alten Forschungsprogramm näher zu bestimmen. Die Relation zwischen dem vorrevolutionären und dem nachrevolutionären Paradigma ist sehr verschieden von der Relation zwischen dem neuen und dem alten Paradigma in den reifen Wissenschaften. Es ist wesentlich für jedes neue vorherrschende Forschungsprogramm in der Philosophie gewesen, dass ihre Anhänger die Undurchführbarkeit des früheren Forschungsprogramms nachzuweisen versuchen. Rortys Ansicht der philosophischen Revolutionen zufolge gibt es keine intrinsische Beziehung zwischen der vorrevolutionären und der nachrevolutionären Philosophie. Die Paradigmenwechsel in der Philosophie laufen auf Wechsel von Vokabularen hinaus[31], die inkommensurabel sind. Das alte Vokabular wird verbraucht und durch ein neues Vokabular ersetzt, das besser geeignet ist, den Geist der Zeit zum Ausdruck zu bringen. Argumente spielen keine große Rolle bei den Wechseln der Vokabulare in der Philosophie.[32]
Offensichtlich neigt Rorty dazu, gewisse Facetten von Kuhns Theorie der Paradigmenwechsel in den reifen Wissenschaften auf die philosophischen Revolutionen zu übertragen. Auf Grund seiner allgemeinen Auffassung der intellektuellen Wechsel als Wechsel von Vokabularen übersieht er einige wesentliche Unterschiede zwischen den wissenschaftlichen und den philosophischen Revolutionen. Bei den Revolutionen in den reifen Wissenschaften wird eine relativ erfolgreiche Theorie, über die es einen nahezu einhelligen Konsens gegeben hat, durch eine andere erfolgreiche Theorie abgelöst. Bei den philosophischen Revolutionen wird ein erfolgloses Forschungsprogramm durch ein anderes Forschungsprogramm ersetzt, das in der Lage zu sein scheint, die tiefgreifenden Defizite des vorigen Forschungsprogramms überzeugend zu erklären bzw. zu überwinden. Da die anhaltende Uneinigkeit hinsichtlich der im Rahmen der philosophischen Forschungsprogramme erarbeiteten Ergebnisse die Hauptursache für die bisherigen revolutionären Umwandlungen in der westlichen Philosophie gewesen ist, ist jedem neuen Forschungsprogramm die wesentliche Aufgabe zugekommen, die Entstehung unüberwindbarer Meinungsverschiedenheiten und somit den Misserfolg bei der Durchführung des alten Forschungsprogramms zu erklären. Dies ist notwendig gewesen, um bei der Ausführung des neuen Programms auf Erfolg rechnen zu können. Dabei sind die Defizite der alten Forschungsprogramme bei den bisherigen Paradigmenwechseln auf realistische Auffassungen des jeweiligen Mediums der Repräsentation zurückgeführt worden. Dementsprechend haben die Vertreter der neuen philosophischen Programme versucht zu zeigen, dass es keine guten Gründe gibt, die Möglichkeit der Repräsentation einer Realität anzunehmen, die unabhängig vom Medium der Repräsentation ist. Daher hat die Argumentation gegen die realistischen Auffassungen des jeweiligen Vehikels der Repräsentation bei der Durchführung der bisherigen paradigmatischen Revolutionen eine sehr bedeutende Rolle gespielt. Jedes neue Paradigma in der Philosophie ist wesentlich auf das alte Paradigma bezogen worden, da es gewisse Grundannahmen des alten Forschungsprogramms explizit zurückweist.
Noch in den 30er Jahren des 20 Jahrhunderts begann das Paradigma der Subjektphilosophie an Bedeutung zu verlieren, da es den Dissens unter den Philosophen nicht beseitigte und von einflussreichen Denkern wie Heidegger und Wittgenstein kritisiert wurde. In ihren Arbeiten und in den Werken von anderen bedeutenden Philosophen wie Quine, Gadamer und Derrida kam ein neues Paradigma zustande, dessen Prinzipien sich etwa so zusammenfassen lassen:
- Der sinnvolle Gebrauch von sprachlichen Ausdrücken ist auf gewisse Bedingungen angewiesen;
- Man kann diese Bedingungen explizieren, ohne dabei philosophische Theorien traditionellen Typs zu entwickeln;
- Die Bedingungen, unter denen sinnvolle Äußerungen gemacht werden können, sind Bedingungen, unter denen die Bedeutungen der Wörter keine sprachunabhängigen Entitäten (wie Platonische Ideen oder Kantische Kategorien) sein können;
- Sowohl das Programm der traditionellen Metaphysik als auch das Programm der Subjektphilosophie sind undurchführbar;
- Alle Erkenntnis ist geschichtlich bedingt, man kann absolute und ewige Wahrheiten nicht erreichen.
Fast alle bedeutenden Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nämlich Gadamer und Habermas, Quine, Davidson, Kuhn und Rorty, Derrida und Lyotard, haben sich implizit über diese Auffassungen geeinigt. Obwohl zwischen ihnen sehr bedeutende Unterschiede bestehen, bringen sie dieselbe revolutionäre Auffassung der Relation zwischen Sprache und Realität zum Ausdruck, nämlich, dass Sprache kein Spiegel der Realität bzw. der Gedanken sein könne, sondern vielmehr diese mit konstituiere. Da die Beziehung zwischen kognitivem Bewusstsein und Realität durch Sprache vermittelt sei und da diese kein bloßes Mittel für die Repräsentation von unabhängig von ihr identifizierbaren Objekten der Erkenntnis sein könne, sind die meisten Vertreter des linguistischen Paradigmas auch keine metaphysischen Realisten im Hinblick auf die (wissenschaftliche) Erkenntnis. Somit scheint die die westliche Philosophie kennzeichnende Bewegung von realistischen zu nicht-realistischen Auffassungen der Beziehungen zwischen Realität, Bewusstsein und Sprache bis zu ihrem Ende durchgeführt zu sein.
Die Theorie der Struktur der philosophischen Entwicklung soll aber auch der Kluft zwischen der analytischen Philosophie und der Kontinentalphilosophie gerecht werden. Diese Kluft ist auf gewisse strukturelle Kennzeichen der philosophischen Entwicklung zurückzuführen. Sie ist ein Ergebnis der Entwicklung zweier strukturell bedingten Tendenzen. Zum einen ist sie durch die Entwicklung der Opposition zwischen einerseits den Verfechtern des wissenschaftlichen, d.h. des auf Konsens abzielenden Philosophierens und andererseits den (impliziten oder expliziten) Gegnern dieser Art zu philosophieren mit bedingt. Diese Opposition entsteht hauptsächlich auf Grund der von Hume und Kant initiierten Revolution gegen das metaphysische Paradigma. Hume, Kant und ihren Nachfolgern zufolge könne die Philosophie eine im Prinzip konsensfähige Disziplin nur dann werden, wenn sie gewisse fundamentale Fragen der menschlichen Existenz aus der Hand gibt. Als Reaktion darauf entsteht die Philosophie des Lebens als eine anti-paradigmatische Strömung, die auf diese Fragen nicht verzichten will und infolgedessen der Idee der Philosophie als wissenschaftliche Erkenntnistheorie gegenübertritt. Die Werke von Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche belegen die Entstehung dieser Art zu philosophieren. Zum zweiten hat sich des Gegensatzes zwischen den pro- und den anti-naturalistischen Tendenzen des Philosophierens durch das Auftauchen des linguistischen Paradigma weiterentwickelt. Dies ist ein weiterer Faktor, der für die Kluft zwischen der analytischen und der kontinentalen Philosophie relevant geworden ist. Innerhalb des Paradigmas der Subjektphilosophie sind die meisten Anti-Naturalisten Verfechter des wissenschaftlichen Philosophierens. Der anti-naturalistische Flügel des subjektphilosophischen Paradigmas kommt in der sub-paradigmatischen Tradition der Transzendentalphilosophie zum Ausdruck. Nach dem Misserfolg der transzendentalen Phänomenologie, die Philosophie auf die Bahn einer konsensfähigen Disziplin zu bringen, scheint der Traum von einer wissenschaftlichen nicht-naturalistischen Philosophie ausgeträumt zu sein. Einflussreiche Denker wie Heidegger und Gadamer, die die hermeneutische Wende gegen die transzendentale Phänomenologie Husserls vollziehen, brechen eindeutig mit dem Ideal der Philosophie als Wissenschaft. Somit führt die im Zusammenhang mit der anti-naturalistischen Tradition ausgeführte Revolution gegen das Paradigma der Subjektphilosophie dazu, dass die Entwicklung der Opposition zwischen dem wissenschaftlichen und dem nicht-wissenschaftlichen Philosophieren mit der Entwicklung des Gegensatzes, zwischen den pro- und den anti-naturalistischen Tendenzen des Philosophierens zusammenfällt. Hier öffnet sich die Kluft zwischen der konsensorientierten Forschung der analytischen Philosophen und dem existenzorientierten Denken der kontinentalen Philosophen.[33] Jene betrachten diese als Literaten, diese betrachten jene als langweilige Pseudo-Wissenschaftler, die die kulturelle Mission der Philosophie nicht verstehen können.
- Die Struktur der Paradigmenwechsel in der westlichen Philosophie
Kuhns Theorie zufolge weisen die Paradigmenwechsel in den reifen Wissenschaften eine bestimmte Struktur auf. Es ist merkwürdig, dass diese Ansicht auch auf die Paradigmenwechsel in der Philosophie zutrifft. Die Struktur, die den Paradigmenwechseln in der Philosophie innewohnt, lässt sich auf folgende Weise umreißen: Das neue Paradigma wird durch neue sub-paradigmatische Strömungen verkörpert. Die neuen sub-paradigmatischen Strömungen entstehen ja nicht aus dem Nichts, sondern durch tiefe Transformationen alter sub-paradigmatischen Strömungen. Diese Transformationen werden durch die Aufrechterhaltung der allgemeinen pro- bzw. anti-naturalistischen Tendenzen des Philosophierens ermöglicht. Die genannten Tendenzen machen die Kontinuität zwischen den vor- und nach-revolutionären Strömungen aus. Jede Transformation wird wohl durch eine quasidialektische Synthese des alten Sub-Paradigmas, das nach der dem Paradigmenwechsel vorhergehenden methodologischen Revolution entstanden ist, und der Grundgedanken der ihm entgegentretenden anti-paradigmatischen Bewegung durchgeführt. Das neue Paradigma überwindet also sowohl das alte Paradigma als auch die alten anti-paradigmatischen Strömungen. Dies kann anhand der folgenden Beispiele illustriert werden:
– Die pro-naturalistische sub-paradigmatische Tradition des anti-realistischen Empirismus entsteht bei Hume durch eine quasidialektische Synthese der das alte Paradigma vertretenden pro-naturalistischen Tradition des realistischen Empirismus (Bacon, Locke) und der das alte Paradigma ablehnenden Tradition des Skeptizismus. Wie Bacon und Locke sind Hume und seine Nachfolger zwar der Auffassung, dass wir die in der Erfahrung gegebene Wirklichkeit erkennen können, aber wie die Skeptiker leugnen, sie die Möglichkeit einer Erkenntnis der vom Bewusstsein unabhängigen Realität.
– In analoger Weise ‘synthesiert’ das anti-naturalistische Sub-Paradigma der Transzendentalphilosophie die das alte Paradigma vertretende anti-naturalistische Tradition des realistischen Apriorismus (Rationalismus) und die das alte Paradigma ablehnende Tradition des Skeptizismus. Wie die Rationalisten sind Kant und seine Nachfolger zwar der Auffassung, dass sich bestimmte Sachen apriorisch erkennen lassen, aber in Übereinstimmung mit den Skeptikern leugnen sie die Möglichkeit einer Erkenntnis von dem Bewusstsein gegenüber unabhängigen Dingen.[34]
– Das sprachphilosophische Paradigma wird durch die sub-paradigmatischen Strömungen des therapeutischen Postpositivismus (Wittgenstein, Austin), des konstruktiven Postpositivismus (Quine, Davidson, Putnam), der phänomenologischen Hermeneutik (Gadamer), des Poststrukturalismus (Derrida) u. a. verkörpert. Die postpositivistische Philosophie entsteht zunächst durch eine quasidialektische Synthese der pro-paradigmatischen Tradition der frühen analytischen Philosophie (Russell, der frühe Wittgenstein, Carnap) und der anti-paradigmatischen Tradition des frühen Pragmatismus. Die vom späten Wittgenstein und Quine vollzogene Wende zur nicht-realistischen Auffassung der Sprache vereinigt in sich die sprachanalytische Wende, die ursprünglich im Rahmen des Paradigmas der Subjektphilosophie eingetreten war, und die pragmatische Wende, die von Anfang an gegen dieses gerichtet war. Diese Tendenz zeichnet sich in den Werken von Richard Rorty, Hilary Putnam und insbesondere von Robert Brandom deutlich ab. Es ist erwähnenswert, dass Brandoms John Locke Lectures den Titel Between Saying and Doing: Towards an Analytic Pragmatism tragen.[35]
– In ähnlicher Weise ‘synthesiert’ Heideggers und Gadamers hermeneutische Wende die anti-naturalistische sub-paradigmatische Tradition der Husserlschen Phänomenologie und die anti-paradigmatische Bewegung der hermeneutischen Lebensphilosophie. Infolge dieser quasidialektischen Synthese spricht man heute von hermeneutischer Phänomenologie und phänomenologischer Hermeneutik. Es ist bezeichnend, dass auch die Theorien von Habermas und Apel vom Streben nach einer spezifischen quasidialektischen Synthese der Tradition der Transzendentalphilosophie einerseits und der Traditionen der Hermeneutik und des Pragmatismus andererseits geleitet werden. Daher spricht man heute von transzendentaler Hermeneutik und Transzendentalpragmatik. Hier deutet sich ja eine Grundstruktur philosophischer Neuschöpfungen an.
Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es wichtig hervorzuheben, dass die erwähnten quasidialektischen Synthesen mit eklektischen Kombinationen nichts zu tun haben. Sie bedürfen höchster Kreativität, um erfolgreich durchgeführt werden zu können. Dasselbe gilt für das Zustandekommen neuer anti-paradigmatischer Strömungen. Sie leugnen nicht nur das dominante Forschungsprogramm, sondern auch das alte Paradigma und die alten anti-paradigmatischen Bewegungen. Beispielsweise sind sowohl die Philosophen des Lebens als auch die Pragmatisten weder traditionelle Metaphysiker noch Skeptiker noch Befürworter der dominanten Subjektphilosophie. Diese strukturelle Besonderheit des Zustandekommens neuer anti-paradigmatischer Bewegungen hat zur Folge, dass im Laufe der Philosophieentwicklung die Unterschiede zwischen pro- und anti-paradigmatischen Strömungen weniger radikal werden. Der kognitive Optimismus der Befürworter des metaphysischen Paradigmas und der kognitive Pessimismus der Skeptiker setzen die beiden Pole des Raumes der möglichen epistemischen Einstellungen fest. Die strukturellen Eigenschaften sowohl der nächsten Paradigmen als auch der gegen diese gerichteten Strömungen werden durch diese Tatsache mit bedingt, da die neuen Philosophien Positionen zwischen diesen zwei Polen artikulieren. Die Unterschiede zwischen Phänomenologen und Lebensphilosophen und insbesondere zwischen Positivisten und Pragmatisten sind offensichtlich nicht so groß wie die Unterschiede zwischen rationalistischen Metaphysikern und Skeptikern.
Es ist wichtig auch zu beachten, dass – im Gegensatz zur Wissenschaftsentwicklung – die führenden vorrevolutionären Traditionen nach den philosophischen Paradigmenwechseln nicht verschwinden. Der Mangel an Konsens über die Geltung der Argumente, die gegen die Prinzipien des alten Paradigmas vorgebracht worden sind, und über die Wahrheit der Ergebnisse, die während der Durchführung des neuen Forschungsprogramms erarbeitet worden sind, ermöglicht es, dass die vorrevolutionären Richtungen beibehalten werden, obwohl nicht als vorherrschende Richtungen. Somit führt die Entstehung und Durchsetzung neuer Traditionen im Verlauf der Philosophieentwicklung keinesfalls zum Verschwinden der führenden Traditionen der Vergangenheit, sondern eher zu einer gewissen Marginalisierung von ihnen. Die Vermehrung der ‚lebendigen’ Traditionen hat zwei wichtige Konsequenzen für die philosophische Entwicklung. Erstens vermindert die Beibehaltung der alten Traditionen die Unterstützung, mit der jedes neue Paradigma rechnen könnte. Eine wichtige Rolle in dieser Richtung spielt auch die institutionelle Entwicklung der Philosophie, die in den letzten Jahrhunderten stattgefunden hat: die Entstehung neuer Institute, Fachbereiche, Fachzeitschriften, das Anwachsen der Anzahl der professionellen Philosophen, die Veranstaltung von Tagungen und Seminaren usw. All das trägt zur Beibehaltung und Entwicklung der überlieferten Traditionen bei. Noch wichtiger ist die zweite Konsequenz: Die gewisse Beibehaltung der großen Traditionen der Vergangenheit zusammen mit der Tendenz der Milderung des Gegensatzes zwischen pro- und anti-paradigmatischen Strömungen führt dazu, dass die Struktur der philosophischen Entwicklung etwas vager wird. Auf Grund der Vielzahl der beibehaltenen Traditionen und der neuentstandenen Strömungen und Schulen scheint das philosophische Leben in den letzten zwei Jahrhunderten chaotischer bzw. undurchsichtiger geworden zu sein.
- Die Struktur der Philosophiegeschichte
Stellen wir nun zusammenfassend die Struktur der philosophischen Entwicklung dar. Die Geschichte der westlichen Philosophie von Thales, Heraklit und Parmenides bis Gadamer, Quine und Derrida lässt sich nach Epochen einteilen, je nachdem von welchem Paradigma bzw. Forschungsprogramm die philosophischen Untersuchungen dominiert worden sind. In jeder Epoche herrscht ein inhaltlich sehr abstraktes Paradigma vor, das durch verschiedene und oft gegensätzliche Strömungen verkörpert wird. Einige der Strömungen sind eher pro-naturalistisch, andere sind eher anti-naturalistisch. Die (langanhaltende) Uneinigkeit über die Lösungen der paradigmatischen Probleme ruft normalerweise anti-paradigmatische Bewegungen hervor, die das jeweilige Forschungsprogramm in Frage stellen. Die anti-paradigmatischen Bewegungen sind Resultat von oder führen zu einer Krise der Mainstream-Philosophie. Als Reaktion auf diese Krise entstehen neue philosophische Traditionen, die das in Frage gestellte Forschungsprogramm gegen Kritiken verteidigen und es mittels neuer Methoden durchzuführen versuchen. Um das paradigmatische Forschungsprogramm zu retten, kann man es wesentlich umformulieren und ganz neue Methoden für seine Durchführung einsetzen, das heißt, methodologische Revolutionen unternehmen. Da auch die methodologischen Revolutionen nicht zu einem breiten Konsens hinsichtlich konkreter Lösungen der paradigmatischen Probleme führen, kommt es zu paradigmatischen Revolutionen, die das alte Forschungsprogramm verwerfen und dies durch ein anderes Forschungsprogramm ersetzen. Dabei ist aber zu beachten, dass die paradigmatischen Revolutionen sowohl das alte Paradigma als auch die gegen dieses gerichteten anti-paradigmatischen Bewegungen überwinden. Die neuen pro- bzw. anti-naturalistischen Strömungen entstehen durch tiefgreifende quasidialektische Transformationen vorrevolutionärer pro- bzw. anti-naturalistischer Strömungen. Bald entstehen neue anti-paradigmatischen Bewegungen und so weiter und so weiter bis zu Gadamer, Quine und Derrida. Es fragt sich, ob auch die zukünftige Entwicklung der abendländischen Philosophie diese Struktur aufweisen wird. Aufschluss darüber kann nur die Zeit geben.
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Hegel, G. W. F. 1979. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Frankfurt am Main.
Hösle, V. 1984. Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon. Stuttgart-Bad Cannstatt.
Hoyningen-Huene, P. 2009. „Paradigma“, in: Schlüsselbegriffe des 20. Jahrhunderts, Jubiläumsband des Archivs für Begriffsgeschichte. Hamburg, 261-271.
Kuhn, T. 1962. The Structure of Scientific Revolutions. Chicago.
Rescher, N. 1997. Der Streit der Systeme, Ein Essay über die Gründe und
Implikationen philosophischer Vielfalt. Würzburg.
Rorty, R. 1982. Consequences of Pragmatism (Essays: 1972-1980). Minneapolis.
Rorty, R. 1989. Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge.
Schnädelbach, H. und Martens, E. 1985. Philosophie, Bd. 1. Hamburg.
Stekeler-Weithofer, P. 2006. Philosophiegeschichte. Berlin/New York.
Wittgenstein, L. 2003. Tractatus Logico-Philosophicus. Frankfurt am Main.
Wittgenstein, L. 2003. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main.
[1] Dazu zählen unter anderem die Theorien von Hegel (1979), Brentano (1968), Dilthey (1931), Hösle (1984), Rescher (1997) und Collins (2000).
[2] Hegel 1979, 61.
[3] S. Hösle 1984.
[4] Man sieht leicht die Schwierigkeit, in die sich Hösles Zyklentheorie der Philosophiegeschichte verstrickt: sie lässt nämlich keinen Raum für die Entstehung neuer Typen von Philosophien nach der ersten Epoche der Philosophiegeschichte; alle neuen Philosophien in den nächsten Epochen seien normalerweise weiterentwickelte Varianten von alten Philosophien. Ich finde diese Auffassung unhaltbar. Es wäre unplausibel zu behaupten, dass Kants Kopernikanische Wende oder die linguistische Wende keine wesentlich neuen Philosophien hervorbringen. Beispielsweise lässt sich keine der Philosophien in der Antike und im Mittelalter als (proto-)transzendental-idealistisch charakterisieren.
[5] Reschers evolutionistische Betrachtungsweise der Philosophieentwicklung kommt in den folgenden Aussagen deutlich zum Ausdruck:
„Die Philosophiegeschichte seit der klassischen Antike entfaltet sich als eine fortlaufende Verfeinerung bereits existierender Doktrinen – eine Entwicklung, in deren Verlauf immer raffinierter divergierende Doktrinen aus dem fundamentalen Mißklang alter, etablierter Programme hervorgehen.“ (Rescher 1997, 123)
„Methode, Stil und Begriffe können neu sein. Die Doktrinen aber – gefangen in den Grenzen lange vorher festgelegter Möglichkeiten – sind altbekannt.“ (Rescher 1997, 126)
[6] Collins’ Theorie vernachlässigt die genannte anti-metaphysische Tendenz in der Entwicklung der abendländischen Philosophie von Hume und Kant über Nietzsche bis Wittgenstein und Derrida bzw. die Spezifizität der Wende zur Sprache, wie sich aus seinen Thesen über die Relation zwischen der Metaphysik und der Erkenntnistheorie ersehen lässt:
„Critical epistemology is a highway to higher metaphysical schemes.“ (Collins 2000, 809)
“It is not ironic for the anti-metaphysical movement of logical positivism and analytical philosophy to be followed by a renewed outburst of metaphysics; it is part of the normal epistemology-metaphysics sequence.“ (Collins 2000, 810)
“The richness of modern European philosophy is this recurrent recycling between epistemology and metaphysics.“ (Collins 2000, 810)
Es ist offensichtlich, dass Collins’ Theorie zufolge die Sprachwende bei Wittgenstein nur ein Moment der Dynamik der Relationen zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik sei.
[7] Der Begriff der reifen Wissenschaft ist zentral für Kuhns Theorie der Wissenschaftsentwicklung. Er hängt eng mit dem Begriff der ‘normalen Wissenschaft’ zusammen. Reif sind beispielsweise Wissenschaften wie Physik und Chemie, in denen es einen breiten Konsens über die Grundlagenfragen gibt.
[8] Dies erklärt auch, warum die Erarbeitung einer solchen Theorie keineswegs als Priorität angesehen wird.
[9] Das ist auch ein Grund dafür, warum die Philologisierung der philosophisch-historischen Untersuchungen nicht zu einem breiteren Konsens über deren Ergebnisse geführt hat. Es ist ja offensichtlich, dass sie die Vielzahl der Interpretationen von philosophischen Texten nicht (wesentlich) reduziert. Meiner Meinung nach hat Schnädelbach Recht, dass die Philologisierung der Philosophie auf eine falsche Wissenschaftlichkeit hinausläuft (s. Schnädelbach 2004, 337-8). Es ist wohl ein positivistisches Vorurteil, dass die skrupulöse und detailorientierte Interpretation philosophischer Texte wissenschaftlicher als die Untersuchung allgemeiner philosophischer Tendenzen sei. Ich stimme Stekeler-Weithofer zu, wenn er schreibt:
Es ist ein Aberglaube unserer Zeit zu glauben, dass das Wirkliche rein empirisch, also durch Einzeluntersuchungen, erfassen könnte. Das empirische Wissen fungiert nämlich immer mehr als Kontrolle in der Feinsteuerung allgemeinen Wissens. […] Analoges gilt für die Geschichte. Auch hier dienen neue positive oder empirische Berichte über Einzeltatsachen in aller Regel bestenfalls einer Korrektur des geschichtlichen Verständnisses. Sie führen nicht unmittelbar zu einem strukturbezogenen Begreifen und vernünftigen Urteilen über Entwicklungen. (Stekeler-Weithofer 2006, 48)
[10] Vgl. Habermas 2000, 37.
[11] Vgl. Habermas 1999, 65-101.
[12] S. Apel 1979, 101-138.
[13] Vgl. Schnädelbach 1985, 37-76.
[14] S. Kuhn 1962.
[15] Es ist kaum zu bestreiten, dass für Kant und seine Nachfolger die Kopernikanische Wende auf eine sehr bedeutende Revolution der Denkart hinausläuft (vgl. Gadamer 1987, 336).
[16] In den nächsten Abschnitten werde ich die Natur dieser philosophischen Revolution näher bestimmen. Hier möchte ich nur darauf hinweisen, dass Wittgensteins Philosophische Untersuchungen (Wittgenstein 2003b) nicht weniger revolutionär als Tractatus Logico-philosophicus (Wittgenstein 2003a) sind. Die Philosophischen Untersuchungen artikulieren nämlich eine wesentlich neue Auffassung der Beziehung zwischen Sprache und Welt bzw. Sprache und Bewusstsein.
[17] Dasselbe gilt vielleicht auch für Heideggers Betrachtung der Philosophiegeschichte als Seinsgeschichte. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass den Philosophien von Platon, Epikur und Pyrrhon ein und dasselbe Verständnis des Seins innewohnt. Heideggers Konzeption der Philosophiegeschichte kann der Mannigfaltigkeit der philosophischen Positionen, die in jeder Epoche der Philosophiegeschichte entwickelt werden, nicht Rechnung tragen.
[18] Auf die Frage nach der Natur der fundamentalen Auffassungen in der Philosophie gehe ich in dem nächsten Abschnitt ein.
[19] Eine Ausnahme davon bilden wohl die (formalen) Logiker, sofern diese Philosophen sind. Wir können hier auf die Frage nach den Relationen zwischen formaler Logik, Philosophie und Mathematik nicht eingehen.
[20] Auch Collins’ Theorie basiert auf die Auffassung, dass die Uneinigkeit unter den Philosophen von entscheidender Bedeutung für die Philosophieentwicklung gewesen ist:
„Intellectual life is first of all conflict and disagreement.“ (Collins 2000, 1)
„Conflict is the energy source of intellectual life.“ (Collins 2000, 1)
„It is conflicts – lines of difference between positions – which are the most priced
possessions of intellectuals. For this reason the history of philosophy is the history
not so much of problems solved as of the discovering of exploitable lines of
opposition.“ (Collins 2000, 6)
[21] Weiter unten gehe ich auf die strukturelle Rolle der Synthesen für die philosophische Entwicklung ein.
[22] Im Mittelalter kann man vielleicht eine gewisse Abweichung von der üblichen Struktur der Entstehung philosophischer Strömungen feststellen, da der Faktor der Uneinigkeit eine wohl begrenzte Wirkung gehabt hat. Alle philosophischen Positionen, die mit den christlichen Doktrinen unverträglich waren, konnten über lange Zeiträume hinweg frei nicht entwickelt werden.
[23] Hoyningen-Huene 2009, 262.
[24] Hoyningen-Huene 2009, 265.
[25] Hoyningen-Huene 2009, 266.
[26] So entstand z.B. die Tradition des Platonismus teilweise als Reaktion auf die Herausforderung durch die Sophisten, die cartesianische Wende zum Subjekt – teilweise als Reaktion auf die skeptische Krise der Philosophie des 17. Jahrhunderts, die phänomenologische Bewegung und die Tradition der analytischen Philosophie – teilweise als Reaktionen auf die anti-paradigmatischen Strömungen des Psychologismus und des Historismus. Deswegen wäre es wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass jede brauchbare Theorie der Philosophieentwicklung sich auf die Rolle der anti-paradigmatischen Bewegungen beziehen solle.
[27] Normalerweise sind die Verfechter des Naturalismus in einer philosophischen Disziplin auch Verfechter des Naturalismus in anderen Disziplinen. Die Zusammenhänge zwischen den naturalistischen Positionen in den verschiedenen philosophischen Bereichen sind aber nicht logischer Natur.
[28] In seiner Introduction to Consequences of Pragmatism Rorty schreibt:
[…] what Gustav Bergmann called “the linguistic turn” should not be seen as the logical positivists saw it – as enabling us to ask Kantian questions without having to trespass on the psychologists’ turf by talking, with Kant, about “experience” or “consciousness.” That was, indeed, the initial motive for the “turn,” but (thanks to the holism and pragmatism of the authors I have cited) analytic philosophy of language was able to transcend this Kantian motive and adopt a naturalistic, behaviouristic attitude toward language. (Rorty 1982, XXI)
[29] S. Habermas 1999, 237.
[30] In (Carnap u. a. 2006, 12) heißt es:
„Diese Methode der logischen Analyse ist es, die den neuen Empirismus und
Positivismus wesentlich von dem früheren unterscheidet, der mehr biologisch
psychologisch orientiert war.“
[31] Vgl. Blackburn 2003, 56-60.
[32] Vgl. Rorty 1989, 10-22.
[33] ‘Existenzorientiert’ bezieht sich auf alle wichtigen Fragen des Lebens, der Gesellschaft, der Geschichte und der Gegenwart, die sich (heute) nicht rein analytisch bzw. strikt wissenschaftlich diskutieren lassen. Der Terminus soll also etwas umfangreicher verstanden werden, so dass auch die Werke von Autoren wie Foucault, Baudrillard, Adorno, Gadamer u. a. mit einbezogen werden.
[34] Kant selbst brachte das Verständnis dieser Tatsache zum Ausdruck, indem er die Stellung des Kritizismus zum Dogmatismus und Skeptizismus klarstellte.
[35] S. Brandom 2008.
Philosophia 29/2022, pp. 3-38