Petrarcas ‚performative‘ Ethik: Anmerkungen zu De remediis utriusque fortunae (ein Lektürevorschlag)

Thomas Jeschke

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Abstract: Petrarch’s ‘Performative’ Ethics: Remarks on De remediis utriusque fortunae (A Reading Suggestion). De remediis utriusque fortunae was one of Petrarch’s most successful work in terms of publicity and diffusion. However, while it was well perceived by contemporaries up to the 18th century, later its reputation became tattered. Present-day scholarship tries to deal with it in many different ways, starting with ignoring it to reading it as Petrarch’s Stoic Ethics. The present paper argues that the literary genre of a Dialogue between Reason and the four Affects of Good (Gaudium, Spes) and Bad Fortune (Dolor, Metus) is to be taken seriously. One should not reduce Petrarch’s to Reason’s Opinion nor should one interpret Stoic elements in the Dialogues to be Petrarch’s unique and exclusive position, but consider the work as a whole, that is to say as speech and counter-speech. Moreover, when it comes to how this dialogue is to be read and understood, the paper suggests to read it rather as a performative Ethics, meaning that reading the Dialogue is already or at least leads to an Ethical attitude. This converges well with Petrarch’s concept of philosophy, which according to him is only true when it is practical.


  1. Einführung*

Petrarcas De remediis utriusque fortunae war jahrhundertelang eines seiner bekanntesten und verbreitetsten Werke. Sowohl Petrarcas Zeitgenossen als auch seine unmittelbare Nachwelt haben es (bis ins 18. Jahrhundert hinein) hoch geschätzt und gelesen. Das bezeugen die mehr als 254 Handschriften, in denen dieses Werk auf uns gekommen ist. Das bezeugen auch die 26 vollständigen und 12 unvollständigen Druckausgaben, die bis 1650 besorgt wurden. Das bezeugen schließlich die mehrfachen Übersetzungen in die Volkssprachen, u. a. auch ins Deutsche.[1] Modernen Lesern scheint dieser Text Petrarcas hingegen weniger zu sagen, wie die teilweise noch andauernde Vernachlässigung des Textes in der modernen Forschung bzw. die teilweise negativen Äußerungen darüber nahelegen. Petrarca ist für den modernen Leser wohl eher Dichter als Philosoph, gehört eher in die philologische denn in die philosophische Abteilung.

Im Folgenden soll es nicht darum gehen, Petrarca als Philosophen zu etablieren – das ist bereits unternommen worden.[2] Es soll auch nicht darum gehen, De remediis als zentrales Werk des philosophischen Oeuvres oder gar des Gesamtwerks zu präsentieren.[3] Es soll vielmehr versucht werden, auf die Besonderheit dieses Werkes einzugehen und einen Zugang dazu vorzuschlagen, der sich nicht darauf beschränkt, das Werk in seiner ‚Skurrilität‘ hervorzuheben, sondern seine genuine Methode hervorzuheben. Angesichts dieser Methode werde ich vorschlagen, in De remediis von einer performativen Ethik zu sprechen, einer Ethik, in der genau die zwei Hauptinteressen Petrarcas konvergieren: Dichtung und Philosophie. Diese Art der Ethik informiert nicht nur den Leser über Verhaltensweisen, sondern regt an, sich mit den behandelten Themen auseinanderzusetzen, ja eigentlich eine Position zu beziehen. Ausgangspunkt hierfür ist die anthropologische Situation des Lesers, seine menschliche Natur. Anders als in der späteren Renaissance-Literatur über die Würde des Menschen nimmt Petrarca dabei auch die affektive Seite des Menschen ernst. Der Mensch ist nicht nur Ratio, sondern wesentlich eben auch Affekte.

Zunächst soll hier ein kurzer Abriss der Besonderheiten des Werks gegeben werden (2). Sodann referiere ich einige Einschätzungen bzw. Interpretationen des Werks, die m. E. dem Werk nicht gerecht werden (3). Um eine positivere Würdigung zu ermöglichen, mache ich zunächst einige Bemerkungen zu Petrarcas Exemplagebrauch (4) und gebe eine Interpretation seiner eigenen Leseanweisung (5). Schließlich versuche ich, auf die Frage zu antworten, was Ethik bzw. praktische Philosophie in De remediis heißt (6), um dann einige Schlussbemerkungen anzuführen (7).

  1. Petrarcas De remediis – zwei Besonderheiten

Eine erste Fassung von De remediis entsteht zwischen 1354 und 1360, eine zweite Redaktion wird vor dem Herbst 1366 fertiggestellt.[4] Das Werk ist in zwei Bücher unterteilt, von denen Buch I Heilmittel gegen das Glück, Buch II Heilmittel gegen das Unglück präsentiert. Beide Bücher sind in Kapitel unterteilt, das erste in 122, das zweite in 132. Diese Kapitel sind in Dialogform gestaltet. Im ersten Buch bestreiten Freude (gaudium) bzw. Hoffnung (spes) und Vernunft (ratio) Dialoge, im zweiten Buch Schmerz (dolor) bzw. Furcht (metus) und Vernunft. Es ist unschwer zu erkennen, dass Petrarca an die stoische Affektenlehre anknüpft und das gesamte Panorama der menschlichen Geisteszustände abgehandelt wissen will.[5] Dazu gehört auch, dass Petrarca eben nicht nur remedia für das Unglück erörtert, sondern auch solche gegen das Glück bzw. den Übermut. Diese Position, dass auch zu viel Glück schädlich wirken kann und daher einer Arznei bedarf, stellt Petrarca ausdrücklich als Novum seines Werkes heraus.[6] Das pseudo-senecaische Werk De remediis fortuitorum, das Petrarca als Vorlage gedient hat, bespricht, wie auch Cicero in seinen Disputationes Tusculanae, nur Heilmittel gegen Unglück.[7]

2.1 Diversität der behandelten Themen

Betrachtet man die Themen und Objekte, die in den einzelnen Dialogen adressiert werden, dann sticht insbesondere deren Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit ins Auge. Hinsichtlich des Glücks werden z. B. folgende Themen diskutiert: ein blühendes Leben (c. 1), die Schnelligkeit des Körpers (c. 6), ein treuer Freund (c. 52), die Entdeckung von Gold (c. 54), Elefanten und Kamele (c. 60), Affen (c. 61), eine schöne Frau (c. 66), Glück (c. 108), Besuch eines Prinzen (c. 116), und zuletzt Hoffnung auf das Ewige Leben (c. 122). In Bezug auf Unglück werden beispielsweise behandelt: ein deformierter Körper (c. 1), Schwachheit (c. 2), viele Kinder (c. 12), entlaufene Bedienstete (c. 30), unangenehme Nachbarn (c. 31), Schlaflosigkeit (c. 86), die Bürde des Ruhms (c. 88), verschiedene Formen des Todes, u.a. ohne Nachkommen (c. 131) und schließlich ein Tod in der Furcht, unbeerdigt zu bleiben (c. 132). Diese sehr willkürlich herausgegriffenen Kapitel machen deutlich, dass die Themen sehr divergent und in den behandelten Problemen vor allem sehr konkret sind. Hans Grote schlägt eine Einteilung des ersten Buches in 14 und des zweiten Buches in 12 Themenkomplexe vor.[8] Aber auch diese Einteilung zeigt weniger eine systematische Verbindung auf als vielmehr eine breite Fächerung der Themen. Daher wird man wohl im Großen und Ganzen konstatieren müssen, dass der Text ein Sammelsurium oder – wie Petrarca selbst sagt – ein „antidotum“[9], also ein Gegengift gegen eine Vielzahl an unterschiedlichen, aber nahezu alltäglichen Eu- bzw. Dysphorien des Menschen bietet.

2.2 Aporetische Dialogführung

Und ein Weiteres fällt neben der Vielfalt ins Auge, nämlich dass dieses Gegengift nicht so einfach funktioniert, wie man sich das erwarten könnte. Es heißt dort eben nicht: „Du hast ein schlechtes Gedächtnis oder dir mangelt es an Eloquenz, also tu Folgendes …“, sondern die ‚Heilmittel‘ werden als Dialoge dargereicht, und zwar zwischen der Ratio und den Affekten. Darüber hinaus ist die Unfähigkeit der Dialogpartner, einen solchen Dialog zu führen, markant. Im Allgemeinen gilt in der Forschung ein einziger Dialog als echter Dialog, und zwar II, 114: Über den Schmerz am ganzen Körper.[10] Das ist einerseits nicht verwunderlich, weil es natürlich genuin um die Affekte geht, wenn vom Schmerz am ganzen Körper gehandelt wird. Andererseits ist die Dialogführung vor dem Hintergrund aller anderen Dialoge erstaunlich, kommt es doch zu einem wirklichen Gespräch. Nach dem Eingangsstatement des Dolor, dass der ganze Körper wehtue, setzt Ratio zunächst zu einer stoischen Argumentation an: es gehe darum, dass der Geist in Ordnung sei; das wahre Gut sei die Tugend, man müsse die Schmerzen ertragen usw. Die Affekte bzw. im konkreten Fall Dolor wiederholen nicht nur ständig, dass der Körper schmerzt, sondern opponieren gegen Ratios Einwände, z. B. damit, dass die Argumente der Ratio vor dem Hintergrund der Schmerzen ein philosophisches Geschwätz seien, dass die Vorschläge zwar gut gemeint, aber schwer auszuführen seien usw. Im Grunde ist der Vorwurf, dass die philosophischen Argumente nicht die Realität des Schmerzes zu ändern geeignet sind. So behauptet Dolor in der 18. Wechselrede, dass praktische Mittel notwendig seien für die Linderung des Schmerzes und nicht nur theoretisches Wissen. Damit nimmt der Dialog einen neuen Anlauf und auch Ratio ändert ihre Strategie, indem sie nun zur christlichen Argumentation anhebt. Sie schlägt eine Selbstreflexion auf die eigene Vergänglichkeit, auf die Situation des Geschöpfes vor, sie versucht, das Leiden zu funktionalisieren bzw. vertröstet auf die (spätere) Gerechtigkeit Gottes. Der Dialog endet mit dem Hinweis der Ratio auf Jesus Christus, der so viele Schmerzen ertragen habe.

Dialog I, 10 gilt gemeinhin als der einzige Dialog, in dem die Ratio tatsächlich erfolgreich ist.[11] Gaudium ist zunächst stolz auf seine Tugend und rühmt sich ihrer. Ratio hält ihm entgegen, dass ein solches Verhalten weit von der Tugend entfernt sei. Die ersten sieben Wechselreden zeugen wieder für einen Undialog, bei dem Gaudium weiterhin seine Tugend anpreist. In den letzten vier Wechselreden jedoch nimmt Gaudium kontinuierlich Abstand vom Ruhm seiner Tugend, bis es zuletzt seine Tugend als lediglich „etwas“ bezeichnet bzw. als etwas, das wenn überhaupt vorhanden, dann nur von Gott stammen könne. Damit wird die Tugend im Kern als Demut bestimmt, die Gaudium am Ende des Dialogs tatsächlich besitzt. Die Dialoge I, 43 (Über die Bücherfülle), I, 40 (Über Bilder) und I, 41 (Über Statuen)[12] und I, 8 (Über das Gedächtnis)[13] zum Beispiel wurden von der Forschung als ein Scheitern der Ratio vorgestellt.[14] Insbesondere in I, 101 scheitert Ratio darin, die Affekte vom Rachenehmen abzuhalten – der Dialog endet ‚tödlich‘.

Ansonsten sind die Dialoge, wie angedeutet, durch die mangelhafte Gesprächsbasis zwischen den Teilnehmern gekennzeichnet. Während die Ratio (philosophische) Argumente anführt, die man in einem Traktat zur Ethik auch erwarten würde, sind die Beiträge der Affekte sehr beschränkt. Diese Dialogunfähigkeit ist aber bezeichnend für die Affekte, wie Franz Josef Worstbrock schon hervorgehoben hat: die Affekte „äußern sich nur unmittelbar als sich selbst und können sich nur dergestalt unverändert wiederholen“, sodass die Monotonie ihrer Antworten „nur konsequente Form“ ihres Wesens sei.[15] Auf der anderen Seite muss man aber mit Worstbrock ebenfalls konstatieren, dass Ratio nicht wesentlich flexibler ist. Auch bei ihr ist kein Einlassen auf den Dialogpartner sichtbar. Worstbrock meint sogar, dass die Rationalität der Ratio rein rhetorisch sei, „einen anderen, höheren Wahrheitswert, höhere Gewißheitsansprüche hat sie nicht.“ Die Situation zwischen beiden verbleibe grundsätzlich in der Aporie.[16] Dies ist umso verständlicher, wenn man in Betracht zieht, was Petrarca in seinem Vorwort als Leseanweisung gibt (s.u., 5), dass nämlich die Letztentscheidungsinstanz nicht die den Geist bestürmenden Affekte noch die verteidigende Vernunft, sondern die Leser selbst sind. Das wird noch deutlicher dadurch, dass dieselbe Ratio mit teilweise widersprüchlichem Rat auftritt. In Buch I ist sie eher pessimistisch eingestellt und bietet so ein Gegengewicht zu den euphorisierten Affekten, in Buch II legt sie einen starken Optimismus an den Tag, der der Trauer und dem Schmerz der Affekte entgegengesetzt ist. In I, 108 (Über Glücklichsein) hat Ratio beispielsweise eine eher düstere Weltsicht, während sie im berühmten Dialog II, 93 (Über Traurigkeit und Leid) geradezu vom Menschen und seiner Stellung im Universum schwärmt.[17] So gesehen sind also die Affekte ursprünglicher, die Ratio bietet hingegen ein Korrektiv zu ihnen, muss also auf die jeweilige Stimmung der Affekte reagieren.

  1. Interpretative Stimmen

Vor dem Hintergrund dieser Charakteristika lassen sich auch einige kritische Ansätze in der modernen Forschung verstehen. Nicholas Mann z. B. vermisst bei De remediis die Einheit, er hält es für „ein Werk ohne Synthese“, spricht Petrarca in diesem Werk sogar die humanistische Perspektive ab.[18] Ein ähnlicher Tenor findet sich bei Luc Deitz: Auch hier wird De remediis als eine „enorme Enzyklopädie moralisch erbaulicher Dialoge“ gekennzeichnet; auch hier wird der Mangel an Einheit bzw. Synthese kritisiert.[19] Der Herausgeber der vollständigen (!) Übersetzung ins moderne Englisch, Conrad Rawski, warnt seine bzw. Petrarcas moderne Leser vor den „langen, kuriosen und schwierigen, mürrischen, arrogant selbstsicheren, geschwollenen, mit alten Geschichten und Ansichten gefüllten, dunklen, rätselhaften, gelegentlich ärgerlichen und schamlos veralterten“ Dialogen.[20] Ebenso sortiert der Übersetzer der modernen, unvollständigen deutschen Übersetzung, Rudolf Schottlaender, viele Dialoge aus, mitunter, weil sie entweder „wie fader Trost wirken“ oder weil sie „zu seiner [d.i. Petrarcas, TJ] Zeit und noch auf lange hinaus dem Geschmack vieler Leser zusagten, uns aber eher langweilen oder sogar verstimmen“.[21] Unter anderem aufgrund dieser Hermeneutik übersetzt Schottlaender nur ungefähr zehn Prozent des Gesamtwerkes.[22]

Allerdings wurde De remediis auch positiv hervorgehoben. Stierle meint, dass es „durch seine Wirklichkeitsnähe, durch seine praktische Vernunft, durch die einfache Durchsichtigkeit der Dialogführung zu seinem verbreitetsten und populärsten geworden“[23] sei. Auch Hans Grote schreibt der „realitätsnahen Anlage“ diesen großen Erfolg zu. Hier seien „auf höchst wirksame Art und Weise“ philosophische Bildung und Alltagserfahrung verknüpft worden.[24] Michael Baxandall hält das Werk gerade wegen seiner Ambivalenz sogar für heutige Leser noch für das „unterhaltsamste“ lateinische Werk Petrarcas.[25] Diese drei Einschätzungen scheinen mir dem Werk ebenso wenig gerecht zu werden wie die zuvor genannten. Sie verkennen oder leugnen erstens die Sperrigkeit der Dialoge und der Themen, und scheinen den Text zweitens auf das rein Ästhetische zu beschränken.[26]

Diese positiven wie negativen Einschätzungen von De remediis dürften jedoch mehr über ihre Verfasser als über den intendierten Gegenstand, mithin über Petrarca und sein Werk aussagen. Sie bezeugen einen Erwartungshorizont an ästhetischen, aber auch philosophischen Aspekten, der von einer modernen Warte her kommt. Diese Diskrepanz würde allerdings geringer werden, wenn man den den tatsächlichen Charakter des Werks als einer ‚performativen Ethik‘ berücksichtigt, den ich hier vorschlagen will. Denn es wäre dann ein genuines Moment des Werks, dass es verstörend wirkt, dass es zu einer Positionierung ihm gegenüber auffordert. Man mag vielleicht noch darüber diskutieren, ob die angeführten Beispiele oder Exempla noch zeitgemäß sind. In Grenzen jedoch, so möchte ich behaupten, bleibt Petrarcas Ethik in De remediis applikabel, und zwar insbesondere vor dem Hintergrund, dass sie zwei wesentliche Merkmale unserer Zeit teilt: erstens eine individualistische Perspektive auf den Menschen und zweitens eine immer stärker werdende Fokussierung auf die Affektseite des Menschen.

Ein weiteres Missverständnis in diesem Zusammenhang sollte daher vorab noch abgewiesen werden: Diskutiert man dieses Werk mit Studenten, dann gehen diese normalerweise und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit davon aus, dass Petrarca die Meinung der Ratio vertritt. Diese Meinung wird aber auch in der aktuellen Forschung zumindest impliziert. So beschreibt Eckhard Keßler, die Antwort der Ratio auf das Miseria-Problem als Lösung Petrarcas[27] und auch nahezu die komplette Literatur zur Würde des Menschen im Kontext der Renaissance nimmt, wenn sie von ihrem Beginn bei Petrarca spricht, ohne Weiteres an, dass die Thesen der Ratio das sind, was uns der Autor Petrarca sagen will.[28] Der Übersetzer der modernen deutschen Ausgabe, Schottlaender, hält die Passagen der Affekte für redundant,[29] aber bereits Stephan Vigilius (Wacker), der Übersetzer der Ausgabe von 1539, reduzierte die Passagen in größtmöglichem Umfang.[30] Dieser Meinung ist aber auch mit Recht widersprochen worden.[31] Beispielhaft lässt sich hier der Dialog über Bruder- und Schwesterliebe (I, 84) anführen, in dem Ratio eine pessimistische Sichtweise einnimmt, der Affekt eine optimistische. Führt man sich Petrarcas gutes Verhältnis zu seinem Bruder Gherardo vor Augen, dann ist man weniger geneigt, ihm Ratio-Sicht in dieser Sache zuzuschreiben.[32] Einen ähnlichen Fall finden wir in I, 8 (De memoria). Hier wird das Gedächtnis durch die Ratio generell infrage gestellt. Ob man Petrarca eine solch anti-augustinische Haltung zuschreiben sollte, ist immerhin fraglich.[33] Daher sollte die Meinung Petrarcas nicht einfachhin mit der der Ratio identifiziert werden.

Tatsächlich hat bereits Heinrich C. Kuhn auf die Besonderheit des Werks De remediis und die dahinter stehende Ethik aufmerksam gemacht. Er beschreibt sie als eine „Ethik ohne Metaethik“, sieht darin aber keinen Mangel, sondern ein Charakteristikum dessen, was er „ethische Algorithmen“ nennt. Im Grunde stimme ich Kuhns Analyse von De remediis zu, möchte aber auch noch die beiden Algorithmen bestreiten, die er als quasi-Richtschnur in der Ethik Petrarcas ansieht. Vielmehr möchte ich dafür plädieren, die Richtschnur in De remediis viel fundamentaler anzusiedeln, nämlich im ingenium des Lesers selbst. In diesem Sinne muss das Werk als Sammlung an Dialogen zwischen Vernunft und Affekten gelesen werden, die exemplarisch alle relevanten Probleme des Lebens erörtern. Jeder Einzelne (Leser) muss dann für sich entscheiden, ob diese Dialogführung vor seinem Erfahrungshintergrund stimmig ist – und welchen Argumenten er sich aufschließt. In diesem Sinne ist Petrarcas Ethik eine stark individualistische Ethik.

  1. Petrarcas Exemplagebrauch als ‚Richtschnur‘ seiner Ethik

Kuhn spricht Petrarcas Ethik zunächst also eine Richtschnur oder Metaethik ab.[34] Zudem sei es „keine kasuistische, oder situationsethische oder partikularistische Ethik.“[35] In beidem, so scheint mir, ist Kuhn zuzustimmen. Jedoch meint Kuhn zwei „Algorithmen“, also zwei Weisen oder Methoden aus De remediis herauslesen zu können, die sehr abstrakt als Handlungsanweisungen verstanden werden können. Die erste Methode ist die der Präferenz des gemäßigten Handelns vor dem harten Handeln. Erst wenn besonneneres Handeln ohne Konsequenz bleibt, soll Strenge eingesetzt werden. Kuhn führt dazu De remediis II, 44 (Über den ungeratenen Sohn), II, 74 (Über den Bürgerkrieg) und II, 39 (Über einen ungerechten Herrscher) an.[36] Abgesehen davon, dass diese Stellen den Algorithmus nur andeutungsweise skizzieren, sind das wohl die einzigen Stellen für einen solchen Algorithmus. Sie scheinen zudem nur auf Fälle aus dem zweiten Buch zu passen – und auch da eben nicht auf alle, wie sich leicht an den Beispielen ersehen lässt, die bisher angeführt wurden. Der zweite Algorithmus bei Kuhn ist, „den Rat der Abwesenden zu nutzen“. Hier wird exemplarisch De remediis II, 53 (Über die Abwesenheit der Freunde) angeführt. Auch dieser Algorithmus ist wieder sehr unspezifisch; und doch – oder gerade deswegen – scheint er auf das ganze Werk zu passen. In gewisser Weise ist damit mehr charakterisiert als nur eine Handlungsanweisung oder ein Algorithmus, sondern das ganze Konzept Petrarcas scheint damit skizziert zu sein. Es geht hier nicht nur um den Umgang mit antiken Autoritäten, sondern um Petrarcas Gebrauch von Exempla im Allgemeinen. Bevor ich daher abschließend Stellung beziehe, möchte ich mit Sabrina Ebbersmeyer noch einmal kurz auf die Stellung der Exempla bei Petrarca eingehen.[37]

In der Epistula familiaris VI, 4 (1342) an Giovanni Colonna gibt Petrarca vier Kriterien für seinen Exemplagebrauch. (1) Exempla handeln von berühmten (illustribus) Männern. (2) Die Exempla müssen wahr (veris) sein. (3) Sie sollen erquicken (cum delectatione). (4) Ihnen muss Autorität innewohnen (insit auctoritas). Ob die Kriterien vorliegen, also ob das Exemplum angemessen ist, ist nicht objektiv feststellbar; vielmehr ist es notwendig, dass Autor und Leser ein Exemplum als solches anerkennen. Hier zeigt sich die besondere Rolle, die dem Leser bei Petrarca zukommt: es ist eine Schiedsrichterrolle. Der Leser muss entscheiden, ob die ihm von Petrarca unterbreitete Geschichte als Exemplum dienen kann. Man darf darüber hinaus dann wohl vermuten, dass der Leser eine ähnliche Rolle auch in De remediis spielt, z. B. dahingehend, dass er für jeden Dialog Petrarcas entscheiden muss, ob (1) dieses Problem für ihn besteht und (2) ob die Dialogführung für ihn annehmbar bzw. in welcher Weise sie zu ändern ist. Tatsächlich begründet Petrarca seinen Exemplagebrauch nicht nur damit, dass darin eine Kommunikation mit der „Vorwelt“ möglich wird, sondern insbesondere mit dem Hinweis darauf, dass Exempla der Selbsterprobung und dem Erfahrungsersatz dienen. „Ein Exemplum ist ein bestimmtes Überzeugungsmittel, das Petrarca als eines neben der Erfahrung (experientia), der vernünftigen Überlegung (ratio) und der Autorität (autoritas) begreift.“[38] Es ergänzt die rationale Überlegung bzw. durch es werden „mittels einer narrativen Sequenz Erfahrungen einem theoretischen Diskurs implantiert“.[39] Noch einmal: durch Exempla werden Erfahrungen gemacht bzw. substituiert; deshalb müssen die Beispiele vier Bedingungen erfüllen. Sie müssen (a) authentisch sein, (b) sie müssen individuell sein, d.h. es muss sich um einzelne Erfahrungen handeln;[40] (c) die Geltung dieser Erfahrung muss durch Anciennität und Berühmtheit abgesichert sein; (d) diese Erfahrungen sind als konservierte zu betrachten. Ebbersmeyer spricht zweitens von einer ästhetischen Dimension der Exempla: es seien konkrete Vorstellungsbilder, die dazu angelegt sind, die Seele sinnlich-affektiv zu bewegen. Wie also der Anblick eines Apfels den Willen affiziert, diesen Apfel zu verzehren, so soll das Exempel den Willen dazu führen, dieses Beispiel nachzuahmen. Damit ist auch der eigentliche Zweck der Exempla angesprochen: es geht um die Nachahmung des exemplarischen Handelns.[41] Die Exempla sind gleichsam ‚Verkörperungen‘ oder ‚Verlebendigungen‘ der Tugend. Wie die Statuen schöne Abbilder der Körper sind, so sind die Taten berühmter Männer Ausdruck ihrer Tugendhaftigkeit.[42] Wer also die Taten der berühmten Männer nachahmt, handelt tugendhaft. Imitatio, Nachahmung, nicht Identität ist in diesem Zusammenhang der Zentralbegriff. Was genau nachgeahmt werden soll, werden wir nach der Lektüre der Leseanweisung sehen.

  1. Petrarcas Leseanweisung (Vorwort zu Buch I)

Petrarca gibt seinem Werk eine Leseanweisung mit. Sie findet sich in der Vorrede zu Buch I und ist – als Widmung – zuallererst an seinen Freund Azzo da Correggio gerichtet.[43] Man muss jedoch davon ausgehen, dass in einem zweiten Schritt auch der Leser direkt angesprochen wird. Denn Petrarca, so wissen wir, hat nie für die Schublade, sondern immer für die Öffentlichkeit geschrieben;[44] es war also immer mitgedacht, dass (möglichst viele) andere diese Vorrede lesen würden.

„Einlesen wirst du dich so: es werden jene vielberufenen und untereinander verwandten vier Affekte: Hoffnung (oder Begierde) und Freude, Furcht und Schmerz, die von den beiden Schwestern Glück und Unglück in gleichartigen Geburten zur Welt gebracht wurden, bald von hier, bald von dort den menschlichen Geist bestürmen. Burgherrin aber ist die Vernunft: sie möge ihnen allen als einzige antworten, möge mit Schild und Helm, mit den ihr eigenen Künsten und der ihr eigentümlichen Kraft, mehr noch freilich mit Hilfe vom Himmel die rings schwirrenden Geschosse der Feinde zerstreuen. Auf deinen Geist setze ich meine Hoffnung, daß du leicht entscheidest, wem der Sieg gehört.“[45]

In dieser Exposition wird Folgendes deutlich: (1) Glück und Unglück sind gleichwertige Gegner („Schwestern“), ebenso die ihnen entspringenden Affekte („in gleichartigen Geburten“). (2) Die Initiative bzw. die Ursprünglichkeit liegt bei den Affekten (sie bestürmen den menschlichen Geist), sie greifen an, die Vernunft verteidigt die Burg, also den Geist (animus). (3) Es stehen der Vernunft zwei Mittel zur Verteidigung zur Verfügung: (i) ihre eigenen Künste und ihre eigentümliche Kraft (suisque artibus et propria vi) und (ii) eine himmlische Hilfe (caelesti magis auxilio). (4) Der ganze Dialog wird demnach als innerseelischer Kampf, als „psychomachia[46] verstanden. Die Schiedsrichterrolle kommt dem ingenium zu („de tuo ingenio“), zunächst demjenigen Azzos, wohl aber allgemein demjenigen jedes Lesers („unde victoria stet, facile iudices“).

Das erste Verteidigungsmittel der Vernunft ist offensichtlich: die Kunst der rationalen Argumentation. Sie wird in sämtlichen Dialogen sehr deutlich. Die Vernunft versucht, durch vernünftige Argumente zu überzeugen, während die Affekte generell in ihrer Position verharren. Dieses erste Mittel ist also ein der Vernunft inhärentes: es ist ihre eigene Kraft (propria vis) bzw. die von ihr entwickelte, regelgeleitete Kunst (ars). Das zweite Mittel der Vernunft ist dagegen ein externes, nämlich die himmlische Hilfe. Was damit gemeint ist, bleibt zunächst unklar. Kuhn versteht darunter biblische Autoritäten und beklagt daher auch, dass dieses Hilfsmittel zwar versprochen ist, aber kaum zur Anwendung kommt bei der Fülle an antiken Zitaten.[47] Ich würde allerdings vorschlagen, das externe Hilfsmittel mit dem Schiedsrichter, also dem ingenium zu identifizieren, mithin einer dritten Instanz jenseits von Ratio und Affekte, die daher über Ratio und Affekte urteilen kann.

Ich bin mir bewusst, dass diese Lesart quer zur grammatischen Struktur steht, da die ‚himmlische Hilfe‘ den der Vernunft eigenen Künsten und ihrer eigentümlichen Kraft gleichgeordnet ist, während das ingenium im nächsten Satz auf ein anderes Subjekt bezogen ist, nämlich auf den Leser Azzo bzw. auf alle zukünftigen Leser. Auch systematisch ließe sich einwenden, dass das ingenium kein Mittel der Vernunft sein kann, sondern eben etwas, das ihr von außen zur Hilfe kommt. Dagegen ließe sich anführen, dass Petrarca selbst an anderen Stellen das ingenium als himmlische Hilfe exponiert. So wird es in einer der Invectivae explizit als Gottesgabe – und damit also als „himmlische Hilfe“ – identifiziert, und zwar gerade im Gegensatz zu den Gaben der Fortuna.[48] In einem Brief an Pulice di Vicenza rühmt Petrarca Ciceros ingenium als ein „himmlisches“ bzw. „göttliches“[49] und auch in seinem Africa taucht der Begriff des himmlischen ingenium auf, wenn er Apollo als den göttlichen Geber dieses ingenium feiert.[50] Aber nicht nur die textliche Nähe, sondern auch systematisch lässt sich diese Identifizierung bei genaueren Hinsehen verteidigen. Zunächst würde das mit dem sich in der Renaissance herausbildenden Gebrauch von ingenium konvergieren. Während in der klassischen Antike ingenium als angeborenes Talent gilt und es im Mittelalter als Seelenvermögen, im mittleren Ventrikel des cerebrum verortet wird,[51] spezifiziert das Renaissancedenken ingenium als den unabgeleiteten Grund des Menschen, als Instanz, die vor aller Ratio und Emotion, vor Vernunft und Wille anzusiedeln ist.[52] Im Gegensatz zur ars, also dem regelgeleiteten Wissen, ist das ingenium daher auch flexibler.[53] In De remediis II, 93 verweist die Ratio selbst auf das ingenium, das mit anderen Fähigkeiten (memoria, providentia, eloquium) das Abbild Gottes, insbesondere im Hinblick auf die Schaffenskraft im Menschen (similitudo Dei Creatoris) konstituiert.[54] Dort wird das ingenium als klug (sagax) bezeichnet, als dasjenige, was dem Menschen von Geburt an mitgegeben ist und dazu dient, seine natürlichen Mängel auszugleichen. Gleichwohl, so Petrarca, ist dieses ingenium immer ein individuelles, d. h. seine Fähigkeiten werden in den unterschiedlichen Individuen je unterschiedlich realisiert.[55] Seine Grenzen sind dem ingenium von Gott und der Natur vorgegeben.[56] Daher kann das eigene ingenium auch nicht theoretisch-spekulativ näher bestimmt werden, „sondern nur in einer innovatorischen Selbsterfahrung und Übung“[57], wie sie z. B. bei der Besteigung des Mont Ventoux statthatte. Erfahrung und ingenium stehen also in einer unauflösbaren Wechselbeziehung: Erfahrung muss das ingenium ausloten, ingenium muss sich im Rückgriff auf Erfahrung bestimmen.[58]

An dieser Stelle ist noch einmal zurückzukommen auf die Bemerkungen oben (4.) zur Nachahmung. Dort wurde bereits angedeutet, dass es Petrarca nicht um Identität geht, sondern um Ähnlichkeit. Mit Blick auf das zum ingenium Gesagte lässt sich näher präzisieren, dass es Petrarca in der imitatio nicht um das Nachahmen als Kopieren geht, also „um die Nachahmung fremder Formen, sondern um eine Annäherung an das fremde Ingenium“[59], wie Walter Haug mit Blick auf das künstlerische Schaffen bei Petrarca treffend formuliert. Wenn man also nachahmt (wie Petrarca stilistisch z. B. die antiken Vorbilder[60]), soll man nicht die Produkte nachahmen, sondern den Geist, mithin das ingenium, durch den oder in dem sie entstanden sind.[61] Noch einmal Haug:

„Man erfaßt über die Vorbilder das Regelsystem, aus dem heraus sie geschaffen worden sind, und man erwirbt sich damit die Kompetenz, Analoges hervorzubringen, das damit anders, ja möglicherweise sogar besser ist als die Vorlage. Wenn man also bei Petrarca – theoretisch – von Imitatio sprechen will, dann nur in dem eingeschränkten Sinn, daß man sie als Lernvorgang versteht, in dem die Kompetenz erworben wird, mit der man aus dem selben Ingenium heraus wie die Vorgänger über die Formen frei verfügen kann.“[62]

Wenn nun aber das ingenium auch der Schlüsselbegriff zu De remediis ist, bietet sich folgende Analogie an. Wie das ingenium im Künstlerischen das ist, was nachgeahmt wird, aber eben auch nachahmt, so muss auch im moralischen Verhalten nicht so sehr ein bestimmtes Verhalten nachgeahmt werden, sondern eben der Geist, aus dem es geschieht. Das ist etwas anderes als das Kopieren von Verhaltensmustern und kann daher nicht in einem Tugendkatalog festgehalten werden. Vielmehr muss eine solche Ethik das dahinterstehende ingenium deutlich machen, beispielhafte Anwendungen aufzeigen, ohne moralisch korrekte Verhaltensweisen auf diese Beispiele zu reduzieren. Dies soll im Folgenden noch einmal verdeutlicht werden.

  1. Was heißt Ethik oder praktische Philosophie in De remediis?

Petrarca kritisiert oft, prominent in seinem De sui ipsius et multorum ignorantia, die ‚Theorielastigkeit‘ der scholastischen Ausbildung. Insbesondere kritisiert er Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik, dass dieser zwar sehr gelehrt spreche, dass aber sein Werk ungeeignet sei, uns zu besseren Menschen zu machen.[63] Damit ist aber konkret benannt, was sich Petrarca von einer Ethik erwartet: keine Information darüber, wie Ethiken zu entwerfen sind (also keine Metaethik) oder allgemeine Regeln, die im konkreten Fall anzuwenden sind, sondern gleichsam eine „performative Ethik“, also eine Ethik, die das bewirkt, was sie beschreibt. Wer Aristoteles liest, weiß, dass tugendhaftes Verhalten in einem Verhalten besteht, das zwischen zwei extremen Verhaltensweisen, nämlich der übermäßigen und der zu geringen, liegt (Mesotes-Lehre). „Tapferkeit“ besteht demnach in einem Mittleren zwischen „Tollkühnheit“ und „Feigheit“.[64] Damit, so würde Petrarca sagen, ist aber noch keine Tapferkeit gewonnen. Ich bin nicht tapfer dadurch, dass ich weiß, dass es sich um eine „mittlere“ Verhaltensweise handelt.[65] Petrarca hat also nicht nach einer deskriptiven Ethik gesucht, sondern nach einer, die direkt in die Praxis umgesetzt werden kann. Wie ließe sich diese Vermutung an De remediis festmachen?

Die Dialoge zwischen Ratio und den Affekten exemplifizieren innere Dialoge, wie sie Petrarca und jeder Leser gehabt hat oder zumindest haben könnte. Wer die Dialoge liest, bezieht immer irgendwie schon Position, indem er sich auf die eine oder andere Seite schlägt, oder versucht, zwischen den Extrempositionen zu vermitteln. Der Leser entscheidet dabei aber nicht nur, welche Argumente für ihn schwerer wiegen, sondern er muss grundsätzlich auch entscheiden, ob Probleme überhaupt für ihn bestehen.[66]

Zum Beispiel mag der Dialog über die Bücherfülle (I, 43, Ed. Schottlaender, 81-93) für den Bücherliebhaber und Handschriftensammler Petrarca,[67] aber auch den einen oder anderen Gelehrten, besonders exemplarisch sein, aber für möglicherweise die Mehrheit der Mitmenschen eher irrelevant. In letzterem Fall mag der Dialog oder das Problem als inexistent angesehen werden oder seine Lösung als einfach. Der Bücherliebhaber wird sich aber immer in dem Zwiespalt befinden, den Petrarca so anschaulich schildert. Die Freude jubiliert über die schiere Unmenge an Büchern, die in ihrer Bibliothek vorhanden sind. Die Vernunft warnt unter anderem eindringlich davor, die Pracht der Bibliothek zum Prahlen zu nutzen, die Bücher selbst als Handelsobjekte zu betrachten, und mahnt stattdessen, sich dem Inhalt der Bücher zu widmen. Auch gehe es nicht um die Quantität, sondern natürlich um die Qualität der Bücher und des Geschriebenen. Dem Büchersammler Petrarca, der auf seinen Reisen immer auf der Suche nach neuen Handschriften war, muss der Dialog als Warnung gegolten haben, bei seiner Suche nicht nur die Materialität der Bücher in Betracht zu ziehen, sondern auch deren Qualität zu beachten; mehr noch: der Dialog erinnerte ihn an den Anspruch seiner Vernunft, Bücher nicht nur zu besitzen, sondern sie angemessen zu benutzen.[68]

Auch der folgende Dialog ist gleichsam ein Stachel für Petrarca, diesmal für den Schriftsteller. Dass Petrarca an seinem Ruhm und Nachruhm arbeitete, ist hinlänglich bekannt.[69] Aber Petrarca selbst thematisierte dieses sein Begehren in selbstkritischer Weise. Schriftsteller zu sein, warnt wiederum die Vernunft, ist kein Selbstzweck oder in sich gut. Ganz im Gegenteil: es gebe viel nützlichere Tätigkeiten, z. B. das Beackern eines Feldes (arares campum), das Hüten einer Herde (gregem pasceres) und Ähnliches.[70] In diesem Zusammenhang vertritt Vernunft auch die Position Petrarcas in seinem De sui ipsius et multorum ignorantia, wenn sie behauptet, dass besser als das Schreiben von Büchern das Lesen von Büchern sei. Und noch besser sei es, wenn das Lesen zum Handeln führe, wenn also die Bücher nicht nur Wissen vermittelten, sondern auch zu echtem Tun veranlassen. Das ist, was Petrarca eigentlich von Literatur erwartet und was er sich selbst als Schriftsteller qua Vernunft ins Stammbuch schreibt. Auf der anderen Seite konterkariert sein Verhalten genau diese Sichtweise der Vernunft: zwar behauptet Petrarca über seine Dichterkrönung, dass er sie dem König Robert von Sizilien zu verdanken habe, aber in Wahrheit war doch wohl er selbst die treibende Kraft dahinter.[71] Genau in diesem Sinne schreibt er über die Dichterkrönung ebenfalls, dass er sich ob der Ehrbezeugungen geschämt, aber gleichzeitig auch geschmeichelt gefühlt habe. Petrarca ist also beides: Vernunft als Anspruch und Affekt als Widerständigkeit. In gleicher Weise fordert der Dialog jeden Leser auf, sein Streben nach Ruhm, Ehre, Karriere usw. kritisch zu hinterfragen. Dabei kann es aber nicht – wie in der stoischen Ethik – darum gehen, das Streben als solches zu diskreditieren oder es komplett zu ‚rationalisieren‘, sondern es muss mit dem geeigneten Mittel dosiert werden.

Noch einmal: Wie kann das funktionieren? Offenbar nicht durch Information, wie bei Aristoteles, sondern durch Motivation. Das fängt damit an, dass das Werk derart konstruiert ist, dass ein unbeteiligtes Lesen nahezu unmöglich ist oder zumindest erschwert wird. Die Lektüre von De remediis ruft immer schon eine eigene Position hervor – davon zeugen nicht zuletzt die oben erwähnten kritischen Stimmen zum Werk. Damit wird der Leser aber unmittelbar involviert, eine neutrale Haltung wird verhindert. Dabei scheint zunächst gar nicht so wichtig, welche konkrete Position der Leser einnimmt, sondern vielmehr, dass er eine einnimmt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber doch, dass die Position nicht beliebig ist; sie ist nur nicht allgemein ableitbar. Was Kuhn also mit seiner „Ethik ohne Richtschnur?“ bezeichnet hat, kommt hier zum Tragen, aber viel radikaler als Kuhn meint, denn selbst die beiden Algorithmen, die er reklamierte, sind noch zu allgemein. Vielmehr müssen wir auf Petrarcas ‚nominalistische‘ Weltsicht rekurrieren. Nicht zuletzt die beiden Vorworte (und besonders Vorwort II) machen Petrarcas Sicht deutlich, die von der Vielheit der Einzeldinge gekennzeichnet ist.[72] Diese Einzeldinge werden nicht mehr verstanden als Instanzen einer höheren Einheit oder Materialisierungen einer Form, sondern zuallererst werden sie als in sich existierende Individuen wahrgenommen. Die Allgemeinbegriffe, unter die diese Individuen zu bringen sind, sind nicht mehr extramentale Realitäten, sondern lediglich mentale Konzepte. Wenn es aber solche Allgemeinheiten jenseits des Individuellen nicht mehr gibt, dann kann auch eine Ethik nicht mehr von allgemeinen Richtlinien ausgehen, sondern muss eine individualistische sein.[73]

Das Vorwort zum zweiten Buch macht diese Sicht sehr gut deutlich.[74] Vorab aber lässt sich schon einmal sagen, dass die Sicht in einem krassen Gegensatz zu dem steht, was Ratio dann in De remediis II, 93 über die Würde des Menschen sagen wird. Es steht damit auch im Gegensatz zu dem, was die moderne Forschung als Rede von der Würde in der Renaissance gekennzeichnet hat. Leitmotiv des zweiten Vorworts ist der Streit. Petrarca knüpft explizit an Heraklit an und fasst ihn mit folgenden Worten zusammen „Alles geschieht im Streit“ (Omnia secundum litem fieri). Dabei zielt er – ähnlich wie Heraklit – auf die Wandelbarkeit, die Instabilität der Dinge in der Welt ab. Die Beispiele, die Petrarca bringt, decken das gesamte Panorama des menschlichen Weltumgangs ab. Das Vorgehen ließe sich als „vom Äußeren zum Inneren“ oder „vom Objektiven zum Subjektiven“ beschreiben. Endpunkt ist jedenfalls der in sich selbst zerrissene Geist (Ed. Schottlaender, 182/183). Zuvor betrachtet Petrarca beispielsweise noch das Spiel der Naturkräfte, das Meer, das Wetter, Erdbeben, Orkane und Feuersbrünste (154/155-156/157) oder den Streit unter den Tieren (156/157), der offenbar zu deren Natur (oder DNA) gehört. Aber auch im menschlichen Bereich herrscht Streit als bewegendes Prinzip vor – selbst in der Liebe und in der Familie (162/163). Von dem Streit, der durch Kriege ausgetragen wird, über akademische Streitigkeiten kommt Petrarca zum inneren Streit, den jeder mit den eigenen Lüsten (180/181) austrägt, um schließlich zum bereits erwähnten, in sich zerrissenen Geist zu gelangen. Zum Schluss fügt Petrarca noch eine Bemerkung zum Sprachgebrauch an. Er sagt hier, dass er, um die weniger gelehrten Leser zu erreichen, den ‚volkstümlichen‘ Begriff (vulgari cognomine) der „Fortuna“ gebrauche, Azzo (oder der gelehrte Leser) aber sich nicht davon stören lassen solle. Vielmehr wird Azzo bzw. der Leser aufgerufen, diesen ‚volkstümlichen‘ Fortuna-Begriff durch das Verständnis zu ersetzen, das Petrarca anderswo auch entwickle. Tatsächlich hat Petrarca in einem Brief an Pierre Bersuire davon gesprochen, dass „Fortuna nichts anderes als ein nackter, leere Name“[75] sei, den er lediglich gebrauche, um vom einfachen Volk verstanden zu werden. Stierle nahm daher an, dass Petrarcas Remedium gegen die erwähnte Zeitdiagnose, ja gegen Fortuna selbst, die Entzauberung der Fortuna durch sprachliche Mittel, durch das nominalistische Programm sei.[76] An anderer Stelle rekurriert Stierle auf den Rosenroman des Jean de Meung und Dantes Commedia als Parallelen, um diese ‚nominalistische‘ Welt- und Zeitdiagnose zu beschreiben. „Der Zusammenhang von nominalistischer Sprachtheorie und neuer Kontingenzerfahrung im Zeichen der Fortuna, der sich hier anzeigt, ist zu einer bestimmenden Erfahrungsstruktur des europäischen 14. Jahrhunderts geworden, an der auch Petrarca teilhat“[77] lautet Stierles Fazit. Man müsste sicherlich im Einzelnen näher beleuchten, wo welche Einflussfaktoren anzusetzen sind; als eine grobe Annäherung an den intellektuellen Kontext, in dem Petrarca steht – insbesondere vor dem Hintergrund der erwähnten Stellen im Werk Petrarcas selbst –, ist diese Diagnose sicherlich zutreffend.[78]

  1. Schlussbemerkungen

Im Ausgang von zwei Besonderheiten in De remediis – nämlich der Diversität der Themen und der aporetischen Dialogführung – und den daran anknüpfenden verschiedenen kritischen Stimmen zum Werk, habe ich versucht, eine positivere Würdigung des Werks zu unternehmen, indem ich eine Methode identifiziert habe, nach der Petrarca m. E. seine „Salbenbüchse“ (antidotum) verstanden wissen will. Diese Methode speist sich aus zwei Herangehensweisen, der philosophischen und der poetischen. Ich habe diese Gesamtmethode als „performative Ethik“ bezeichnet, um auf ihre Funktionalität hinzuweisen. Diese Ethik nimmt philosophisch-inhaltlich Bezug auf verschiedene Quellen, vor allem stoische, aber auch christliche, die allesamt von der Vernunft erörtert werden. Aufgrund der Tatsache, dass aber nicht die Vernunft allein argumentiert, wie man das erwarten könnte und wohl auch einige Kritiker von De remediis es getan haben, sondern die Affekte in den Dialog mit einbezogen werden, kommt der poetische Aspekt zum Tragen. Die Lebendigkeit des Dialogs kann dabei Mehreres bewirken. Sie kann erstens dem Leser einen exemplarischen Dialog vor Augen führen, den dieser dann auf seine eigene Situation hin anwenden kann. Diese Idee wurde rückbezogen auf Petrarcas Idee der Exempla, die genau das ingenium des Lesers zu einer imitatio anregen sollten. Sie kann aber auch zweitens eine Verfremdung oder eine Störung hervorrufen, sodass der Leser immer schon – und das machen die kritischen Stimmen abermals klar – in eine Auseinandersetzung mit den Dialogen tritt, um seine eigene Position gegenüber den Positionen (der Affekte, der Vernunft oder einzelner Positionen innerhalb der Argumentationen) zu entwickeln bzw. zu ihnen Stellung zu nehmen. In beiden Fällen – das habe ich anhand von Petrarcas Verständnis von wahrer Philosophie als einer praktischen zu zeigen versucht – mündet die Lektüre des Werks unmittelbar in einer Praxis, also in Philosophie.

Mit Verweis auf Petrarcas Weltsicht, wie sie sich nicht zuletzt in Vorwort II von De remediis ausdrückt, habe ich versucht, die Uneinheitlichkeit als genuines Moment der petrarkischen Ethik darzulegen. Die Dialoge spiegeln die Vielheit der Situationen, aber auch der Subjekte wider, die Petrarca beobachtet – und die wir Leser ebenfalls beobachten können. In diesem Sinne muss Petrarcas De remediis auch als ein Plädoyer für die Vielheit der Lösungen verstanden werden. Hier grenzt sich meine Lesart auch von der sonst instruktiven Zugangsweise Kuhns ab. Wie es in der Welt als einzige Zuverlässigkeit die Unzuverlässigkeit der Dinge gibt,[79] so ist die einzige Regel in De remediis, dass es keine Regel geben kann. Für die vielfach-verschiedenen Situationen der vielfach-verschiedenen Individuen kann es nicht einmal Handlungsanweisungen zur Problemlösung, also Algorithmen, geben, geschweige denn einfache ethische Vorschriften. Als Ausgang aus diesem Problem habe ich als zentrales Konzept der petrarkischen Ethik das ingenium vorgeschlagen. Wenn es stimmt, dass das ingenium bei Petrarca die aller Rationalität vorgeordnete Fakultät des Menschen ist, ja das eigentlich Göttliche in uns, dann lässt sich sehen, dass die Problemlösungen keiner allgemeinen Regeln bedürfen, sondern je individuell zu bestimmen sind.

Handelt es sich dann aber noch um eine Ethik? Sicherlich nicht um eine solche, die Pflichten vorschreibt oder Regeln an die Hand geben will. Sicherlich auch um keine ‚mathematische‘ Ethik, als die man z. B. die Nikomachische Ethik verstehen könnte. Wenn aber Ethik der Weg ist, um das Ziel des (diesseitigen wie jenseitigen) glücklichen Lebens (beata vita) zu erreichen, dann ist Ethik das Gesamt an den individuell richtigen Handlungen für die Vielzahl an Individuen und damit die Vielzahl an ‚glücklichen‘ Leben. Mit der Berufung auf das ingenium jedes Einzelnen, wie sie in der Leseanweisung zum Ausdruck kommt, formuliert Petrarca – ganz im Gegensatz zu seiner Zeitdiagnose – einen sehr konkreten Optimismus,[80] nämlich dass jeder Mensch grundsätzlich befähigt ist, das für ihn Gute zu bestimmen und eine beata vita zu führen.

So betrachtet, kann man die einzelnen Dialoge getrost als antiquiert ansehen und in dem Zeitgeschmack des 14. Jahrhundert verortet sein lassen. Was an ‚Modernität‘ aber bleibt, ist die Überzeugung, dass auch angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebenswege eine Vielzahl an Wegen zum glücklichen Leben, zur beata vita möglich sind.

 


Danken möchte ich Sabrina Ebbersmeyer und Andrea A. Robiglio für ihre hilfreichen Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Beitrags.

[1] Zu diesen Zahlen siehe Erwin Rauner, Petrarcae codices Latini: Datenbank lateinischer Handschriften des Franciscus Petrarca. Erstellt von Erwin Rauner. Version 1.49, Augsburg: ERV, 1998 (zu den überlieferten Handschriften); zit. nach Heinrich C. Kuhn, Petrarcas De remediis: Ethik ohne Richtschnur?, in: Sabrina Ebbersmeyer / Eckhard Keßler (Hg.), Ethik – Wissenschaft oder Lebenskunst? Modelle der Normenbegründung von der Antike bis zur Frühen Neuzeit, Münster 2007, 127-139, hier 129, Anm. 5, bzw. ders., Spannungen und Spannendes in Petrarcas Schrift über die Heilmittel gegen beiderlei Fortuna (Beitrag zur Interdisziplinären Vortragsreihe durch Münchner Gelehrte zur Feier der 700. Wiederkehr des Geburtstags Francesco Petrarcas im Sommersemester 2004), URL: http://www.phil-hum-ren.uni-muenchen.de/SekLit/P2004A/Kuhn.htm#FN6); Willard Fiske, Biographical Notices III. — Francis Petrach’s Treatise De remediis utriusque fortunae, Florence: Le Monnier, 1888 (zu den Druckausgaben und Übersetzungen); davon abweichende Zahlen bei Klaus Heitmann, Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit (Studi italiani, 1), Köln/Graz: Böhlau, 1958, 12-13. Auch die Tatsache, dass es das einzige zu Lebzeiten fertig gewordene und dann auch veröffentlichte Werk Petrarcas ist, hebt es gegenüber seinen anderen Werken zusätzlich hervor. Vgl. Hans Grote, Petrarca lesen (legenda, 7), Stuttgart/Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 73.

[2] Bereits Klaus Heitmann meinte, Petrarca sei mit gleichem Recht als Philosoph zu bezeichnen wie als Dichter; Heitmann, Fortuna und Virtus, 10. Sh. ebenso z. B. Eckhard Keßler, Petrarca der Philosoph, in: Reiner Speck / Florian Neumann (Hg.), Francesco Petrarca 1304-1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca Petrarchesca Reiner Speck, Köln: Dumont, 2004, 79-94; ders., Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (Humanistische Bibliothek I,25), München: Wilhelm Fink, 1978, 2. Aufl. 2004; Sabrina Ebbersmeyer, Homo agens. Studien zur Genese und Struktur frühhumanistischer Moralphilosophie (Quellen und Studien zur Philosophie, 95), Berlin: De Gruyter, 2010, insb. 69-102 (dort auch der Hinweis auf Petrarcas Selbsteinschätzung als [Moral-]Philosoph, wie er in seinem Brief an die Nachwelt zum Ausdruck kommt; 85, Anm. 63). Auch Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Unter Mitarbeit von Fiorella Retucci und Olaf Pluta, 3., vollständig durchgesehene und erweiterte Aufl., Stuttgart: Reclam, 2013, 580-588, behandelt Petrarca unter der Überschrift „Ein Philosoph des 14. Jahrhunderts“. Zu Petrarcas philosophischen Schriften zählt Flasch insbesondere Secretum meum, De sui ipsius et multorum ignorantia, seine moral-philosophischen Traktate sowie Briefe mit theoretischen Überlegungen (Familiari). (Dort auch Bemerkungen zu den Motiven, warum und von wem Petrarca nicht als Philosoph angesehen wird. Von De remediis ist hier allerdings nicht die Rede.) Theo Kobusch, Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters (Geschichte der Philosophie, V), München: C.H. Beck, 2011, 469-471, der Petrarca immerhin unter dem Titel „Philosophie in der Dichtung“ behandelt, sieht bei ihm ein Anknüpfen an die Philosophie der Patristik, in der Linie einer christlichen Philosophie (im Sinne Gilsons). Statt der scholastischen Philosophie gebe es bei Petrarca eine „bei den Vätern entwickelte, auf natürlicher Vernunft beruhende Philosophie Christi“ (ebd., 469), und zwar als Alternative zu Plato und Cicero (!). Auf die Wichtigkeit Petrarcas für die Philosophiegeschichte macht auch aufmerksam Thomas Sören Hoffmann, Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts, Wiesbaden: marixverlag, 2007, hier 206. Hoffmann rechnet De remediis ebenfalls klar den philosophischen Schriften Petrarcas zu (209). P.O. Kristeller, Renaissance Thought and its Sources, hg. v. M. Mooney, New York 1979, 170, hielt Petrarca – mit Blick auf seine Positionen zur Würde des Menschen – zwar als unsystematischen, aber immerhin innovativen Denker (zu Petrarcas Position in der Würdedebatte sh. unten, 3., mit Anm. 28).

[3] Interessanterweise wird Petrarcas De remediis von Albrecht von Eyb in die Margarita poetica aufgenommen und scheint hier gerade nicht als ‚philosophisches‘ Werk rezipiert zu werden: Agostino Sottili, Zur Verbreitung von Petrarca-Handschriften im Deutschland des 15. Jahrhunderts, in: Reiner Speck / Florian Neumann (Hg.), Francesco Petrarca 1304-1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca Petrarchesca Reiner Speck, Köln: Dumont, 2004, 211-226, hier 214.

[4] Timothy Kircher, On the Two Faces of Fortune. De remediis utriusque fortune, in: Victoria Kirkham / Armando Maggi (Hg.), Petrarch. A Critical Guide to the Complete Works, Chicago/London: Univ. of Chicago Press, 2009, 245-253, hier 245. Im Folgenden zitiere ich das Werk wie folgt: I, 114 = Buch I, Kapitel 114.

[5] Pierre Laurens, Un aspect de la fortune du De remediis de Pétrarque en Europe du Nord: de l’illustration à la mise en emblèmes, in: Gino Belloni / Giuseppe Frasso / Manlio Pastore Stocchi / Giuseppe Velli (Hg.), Francesco Petrarca: da Padova all’Europa. Atti del convegno internazionale di studi, Padova 17-18 giugno 2004, Roma/Padova: Ed. Antenore, 2007, 233–249, hier 233; Franz Josef Worstbrock, Petrarcas De remediis utriusque fortunae. Textstruktur und frühneuzeitliche deutsche Rezeption, in: Achim Aurnhammer (Hg.), Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik (Frühe Neuzeit, 118), Tübingen: Niemeyer, 2006, 39-57, hier 45. Zur stoischen Affektenlehre mit ihren vier Grundaffekten Lust (hēdonē), Schmerz (lypē), Begierde (epithymia) und Furcht (phobos) z. B. Christoph Halbig, Die stoische Affektenlehre, in: Barbara Guckes (Hg.), Zur Ethik der älteren Stoa, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, 30-68.

[6] Heilmittel gegen Glück und Unglück / De remediis utriusque fortunae. Lateinisch-deutsche Ausgabe in Auswahl, übersetzt und kommentiert von Rudolf Schottlaender, hg. v. Eckhard Keßler, mit den zugehörigen Abbildungen aus der deutschen Ausgabe Augsburg 1532 (Humanistische Bibliothek. Reihe II. Texte, 18), München: Wilhelm Fink, 1988, 50/51-54/55 [im Folgenden: De remediis, hg. v. Schottlaender].

[7] Robert Joseph Newman, Luchii Annaei Senecae De remediis fortuitorum liber ad Gallionem fratrem, Ph.D. Diss., Baltimore, Maryland: Johns Hopkins University, 1984; Robert J. Newman, Rediscovering the De Remediis Fortuitorum, in: The American Journal of Philology 109/1 (1988), 92-107.

[8] Diese sind: „Gesundheit, Schönheit und Intelligenz (1-13) sowie durch Geburt vorgegebene Eigenschaften (14-17). Die Vergnügungen in Gesellschaft: gemeinsames Essen, Spiel, Zerstreuungen, Spektakel usw. (18-32). Die Annehmlichkeiten eines eigenen Hauses und der Stadt (33-36). Künstlerische und intellektuelle Freuden (37-46). Öffentliche Ämter (47-49). Freundschaft (50-52). Reichtum (53-56). Besitz an Grund und Boden und Vieh (57-64). Der Wert von Ehefrauen, Kindern, Verwandten aber auch Lehrern und Vorgesetzten (65-85). Andere Gründe zum Glücklichsein (86-90). Die Herrschaftsform (91-96). Erfolge in Kriegs- und Friedenszeiten (97-108). Erwartungen und Hoffnungen (109-122)“ (Grote, Petrarca lesen, 72) im ersten Buch, „körperliche Unzulänglichkeiten (1-3). Niedere soziale Stellung (4-7). Armut (8-15). Familiäre Sorgen (16-22). Niedertracht (23-25). Von Freunden, Bedienten, Vorgesetzten und Familienmitgliedern erlittene Ungerechtigkeiten (26-44). Der Verlust geliebter Menschen (45-52). Ungemach auf Reisen, Naturkatastrophen, Schäden am Eigentum (53-62). Ungerechte Verurteilungen (63-67). Krisen des Vaterlands und Sorgen der Regierenden (68-81). Inneres Leiden, Sündhaftigkeit und Krankheiten (82-115). Tod (116-131)“ im zweiten Buch (ebd., 72-73).

[9] De remediis, hg. v. Schottlaender, 54.

[10] Petrarch’s Remedies for Fortune Fair and Foul. A Modern English Translation of De remediis utriusque Fortune, with a Commentary by Conrad Rawski, 5 Bde., Bloomington/Indianapolis 1991, hier Bd. 3, 267-279.

[11] Petrarch’s Remedies for Fortune Fair and Foul, hg. v. Rawski, Bd. 1, 29-31.

[12] So zumindest Dieter Blume, Ingegno – Inganno – Diletto. Reden über Kunst bei Dante, Boccaccio und Petrarca, in: Deutsches Dante Jahrbuch 87 (2013), 19-47, hier 40, der allerdings in Anm. 47 (40-41) auf seine Sondermeinung hinweist. Die Kunsthistoriker verkennen nach Blume im Allgemeinen das Scheitern der Ratio in dieser Frage. Hierzu auch Michael Baxandall, Giotto and the Orators. Humanist observers of painting in Italy and the discovery of pictorial composition 1350-1450 (Oxford-Warburg Studies), Oxford: Clarendon Press, 1971, 53-62.

[13] U.a. dieser Dialog dient bereits Stierle als Beweis für seine Ansicht, dass nicht Ratio, sondern der Leser als Letztentscheidungsinstanz gelten muss. Sh. unten

[14] Ganz grundsätzlich hatte schon Klaus Heitmann in seiner einschlägigen Studie bemerkt, dass Ratio sowohl im ersten als auch im zweiten Teil von De remediis scheitert. Heitmann, Fortuna und Virtus, insb. 240.

[15] Worstbrock, Petrarcas De remediis utriusque fortunae, 46.

[16] Ebd., 46-48.

[17] Bei der optimistischen Sicht der Ratio auf den Menschen setzten all diejenigen Forscher an, die genau diese optimistische Position Petrarca selbst zuschreiben wollen. Sh. unten. Auf die Wandelbarkeit der Ratio hat auch Stierle schon hingewiesen. Er sieht Parallelen zum zweiten Teil des Rosenromans und eine deutliche Abgrenzung zur stoischen Position bzw. zur Position Ciceros, bei dem Ratio und Virtus „die uneinnehmbare Festung der praktischen Vernunft“ seien; Karlheinz Stierle, Petrarca-Studien (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 48), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2012, hier 226.

[18] Nicholas Mann, The origins of humanism, in: Jill Kraye (Hg.), The Cambridge Companion to Renaissance Humanism, Cambridge: Cambridge University Press, 1996, 1-19, hier 13f.: „a work without synthesis“ und: „What Petrarca does not achieve here, … is any kind of philosophical renewal which might lead us to regard him as the founder of the deeper vein of humanism that goes beyond the mere reading and using of texts.“

[19] Luc Deitz, Epicurean Ethics. Petrarch, in: Jill Kraye (Hg.), Cambridge Translations of Renaissance Philosophical Texts, vol. 1: Moral Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press, 1997, 229-233, hier 229: „His most substantial and influential work in this field, On the Remedies for Both Kinds of Fortune (1366), is a vast encyclopedia of morally uplifting dialogues between Reason and the four emotions condemned by the Stoics: Joy and Hope, Sorrow and Fear. It contains a good deal of Stoic material taken from Seneca and Cicero, which is combined, often in a somewhat uneasy synthesis, with traditional Christian attitudes.“

[20] Conrad H. Rawski, To the Modern Reader, in: Petrarch’s Remedies for Fortune Fair and Foul, hg. v. Rawski, Bd. 1, xvii-xviii, hier: xvii: „But, for us, the dialogues are long, quaint and demanding, cantankerous, arrogantly self-assured, sententious, full of old lore and views, obscure, puzzling, occasionally infuriating, and flagrantly out of date as far as present-day knowledge and sentiment are concerned.“

[21] Rudolf Schottlaender, Einleitung, in: De remediis, hg. v. Schottlaender, 11-39, hier 38.

[22] Ebd., 39.

[23] Karlheinz Stierle, Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München/Wien: Carl Hanser, 2003, 222-223.

[24] Grote, Petrarca lesen, 73. Grote liest De remediis als „Lehrbuch stoischer Lebensphilosophie“ (ebd.).

[25] Baxandall, Giotto and the Orators, 53: „On account of its great ambivalence De remediis utriusque fortunae is nowadays one of the most enjoyable of Petrarch’s Latin books to read.“ Baxandall’s Aussage gilt aber einschränkend nur für Petrarcas lateinische Werke und vor dem Hintergrund, dass bei Petrarca die „longest discussion of art one has from the humanist Trecento“ anzutreffen sei.

[26] Insbesondere Baxandall spricht im Zitat von „enjoyable“, aber auch Schottlaender hatte seine Einschätzung mit Bezug auf den „Geschmack vieler Leser“ begründet.

[27] Keßler, Petrarca und die Geschichte, 173ff.

[28] Charles Trinkaus, In Our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, 2 vols, Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1995, hier I, 179-196; A. Buck, Einleitung, in: Giannozzo Manetti, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen / De dignitate et excellentia hominis. Aus dem Lateinischen von Hartmut Leppin. Eingeleitet und herausgegeben von August Buck (PhB 426), Hamburg: Meiner, 1990, VII-XXXIV, hier XI; auch Hanna-Barbara Gerl, Einführung in die Philosophie der Renaissance, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989, 164-165 mit Anm. 26, erwähnt, um Petrarcas positive Anthropologie zu kennzeichnen, ohne weitere Qualifikation eine Stelle aus De rem., II, 93, an der die Ratio spricht; Jill Kraye, Moral philosophy, in: Charles B. Schmitt / Quentin Skinner / Eckhard Keßler / Jill Kraye (Hg.), The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambridge [etc.]: Cambridge University Press, 1988, 303-386, hier 306. Kraye leitet darüber hinaus aus der Aussage der Ratio, dass bisher niemand über die Würde des Menschen geschrieben habe, ab, dass Petrarca für sich reklamiere, als Erster dies getan zu haben. Gegen diese Identifizierung Petrarcas mit der Ratio stehen offensichtlich die beiden Vorworte zu den zwei Teilen, wie unten zu zeigen sein wird. Beide Vorworte scheinen ein Gegengewicht zu der Argumentation der Ratio zu bieten. Insbesondere das zweite Vorwort ist sehr pessimistisch und wäre reinste Fiktion, schließlich läuft es der Position der Ratio in ‚De miseria‘ diametral entgegen. Wenn aber Petrarca irgendwo in diesem Werk gleichsam ungeschminkt zum Adressaten Azzo und uns spricht, dann wohl in den Vorworten.

[29] Schottlaender, Einleitung, 25.

[30] Siehe URL = <http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10140589-4>. Dass auch seine Zeitgenossen und die nachfolgenden Generationen eine solches De-remediis-Bild hatten, beweist der Erfolg der Vigilius-Übersetzung, die bis 1620 weitere acht Auflagen hatte; Worstbrock, Petrarcas De remediis utriusque fortunae, 54. Die Sicht, dass die Meinung der Ratio mit Petrarcas Meinung zu identifizieren ist, teilt auch Trinkaus, Poet as Philosopher, z. B. 121 und 128. Aurnhammer sieht die Auflösung der Dialogizität nur „einer flüssigen Eindeutschung“ geschuldet; Achim Aurnhammer, Die übersetzerische Rezeption Petrarcas in Deutschland, in: Reiner Speck / Florian Neumann (Hg.), Francesco Petrarca 1304-1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca Petrarchesca Reiner Speck, Köln: Dumont, 2004, 153-168, hier 154.

[31] Mit höchster Vehemenz z. B. von Worstbrock, Petrarcas De remediis utriusque fortunae, hier zusammenfassend 44: „Petrarca müßte demnach mit dem Prinzip der unablässigen Wechselrede zwischen Affekt und ‚Ratio‘ einen gravierenden, das gesamte Werk ständig schädigenden Fehlgriff getan haben.“

[32] Stierle, Ein Intellektueller, 226.

[33] Ebd. Zu Augustins Sicht auf memoria z. B. Conf. X, 13, 20-15, 23. Dt.: Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück, Frankfurt a. Main/Leipzig: Insel, 1987, 516-523.

[34] Kuhn, Petrarcas De remediis: Ethik ohne Richtschnur?.

[35] Ebd., 135.

[36] Ebd., 136-137.

[37] Zum Folgenden Sabrina Ebbersmeyer, ‚Veritas ergo suis locis maneat, nos ad exempla pergamus‘. Fonction et signification de l’exemple chez Pétrarque, in: Thomas Ricklin / Delphine Carron / Emmanuel Babey (Hg.), Exempla docent. Les exemples philosophiques de l’Antiquité à la Renaissance, Actes du colloque international 23-25 octobre, Université de Neuchâtel, Paris: Vrin, 2006, 355-372; ich zitiere hier die deutsche Fassung: Veritas ergo suis locis maneat, nos ad exempla pergamus: Funktion und Bedeutung des Exemplum bei Francesco Petrarca (Beitrag zur Interdisziplinären Vortragsreihe durch Münchner Gelehrte zur Feier der 700. Wiederkehr des Geburtstags Francesco Petrarcas im Sommersemester 2004), URL: http://www.phil-hum-ren.uni-muenchen.de/SekLit/P2004A/Ebbersmeyer.htm; sh. auch dies., Homo agens.

[38] Ebbersmeyer, Veritas ergo suis locis maneat.

[39] Ebd.

[40] Ebbersmeyer bringt das auf die Formel: „‚spezifische Erfahrung zeigt‘ statt ‚Erfahrung lehrt‘“.

[41] Petrarca, Fam. VI, 4, 8, in: Sabrina Ebbersmeyer / Eckhard Keßler / Martin Schmeisser (Hg.), Ethik des Nützlichen. Texte zur Moralphilosophie im italienischen Humanismus (Humanistische Bibliothek. Texte und Abhandlungen. II, 36), München: Wilhelm Fink, 2007, 50/51; Le familiari, hg. v. Vittorio Rossi, 4 Bde. (Edizione nazionale, X-XIII), Firenze: G. C. Sansoni, 1933-1942, hier II, 79.

[42] Ebd., §11, 50/51; hg. v. Rossi, II, 80.

[43] Azzo da Correggio (* 1303 in Parma, † 1362 in Mailand) war ein Condottiere mit Neigung zu klassischer Literatur. Sein Lebenlauf war vom Auf und Ab eines Söldnerführers geprägt. Er machte 1335 der Familie Rossi die Kontrolle über Parma streitig, mit der Hilfe der Della Scala aus Verona. 1336 lernte er am Hof in Avignon wohl Petrarca kennen. 1340 nahm er Mastino della Scala Parma weg und regierte es bis 1344. Dann musste er es an Obizzo III d’Este, Signore di Ferrara, übergeben. Später näherte er sich wieder den Scaligern und den Signori di Ferrara an. Aufgrund seines wechselvollen Lebens war er natürlich für Petrarca ein Exempel für das Wirken der Fortuna in beiderlei Gestalt. Zu Azzo vgl. Giorgio Montecchi, Art. Correggio, Azzo da, in: Dizionario Biografico degli Italiani 29 (1983), URL: http://www.treccani.it/enciclopedia/azzo-da-correggio_(Dizionario-Biografico)/ (Stand: 10.11.2016).

[44] Vgl. Grote, Petrarca lesen, 37, der auf Petrarcas ‚editorische‘ Arbeiten an seinen Werke verweist, um seine Versionen von den inauthentischen unterscheidbar zu machen. Sh. auch Sen. XIII, 4, riproduzione del codice Marciano Lat. XI, 17, hg. v. Manlio Pastore Stocchi / Susy Marcon, Venezia: Marsilio Editori, 2003, 90vb-91ra; Sen. II, 4, hg. v. Silvia Rizzo / Monica Berté (Opere. A cura della Commissione per L‘Edizione Nazionale delle Opere di Francesco Petrarca), Firenze: Casa Editrice Le Lettere, 2006, 160-167.

[45] De remediis, hg. v. Schottlaender, 64/65: „Sic autem ad legendum venies, quasi quattuor illae famosiores et consanguineae passiones animi: spes seu cupiditas, et gaudium, metus et dolor, quas duae sorores aequis partubus prosperitas et adversitas peperere, hinc illinc humano animo insultent; quae vero arci praesidet ratio, his omnibus una respondet clipeoque et galea suisque artibus et propria vi, sed caelesti magis auxilio circumfrementia hostium tela discutiat. Ea mihi de tuo ingenio spes est, ut, unde victoria stet, facile iudices.“ (Meine Hervorhebung, TJ)

[46] Conrad H. Rawski, Dramatis Personae: The Argument of the Book, in: Petrarch’s Remedies for Fortune Fair and Foul, hg. v. Rawski, Bd. 1, xxiii-xxiv, hier xxiii.

[47] http://www.phil-hum-ren.uni-muenchen.de/SekLit/P2004A/Kuhn.htm#Stelle37. Antik ist der Begriff z. B. bei Ovid belegt und bezieht sich dort auf das göttliche Orakel (des Phoebus). Vgl. Ovid, Metamorphosen, XV, 630-631, herausgegeben und übersetzt von Hermann Breitenbach, 2. Auflage, Zürich: Artemis, 1964, 1092: „Auxilium caeleste petunt mediamque tenentes / Orbis humum Delphos adeunt, oracula Phoebi …“. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Sabrina Ebbersmeyer.

[48] Petrarca, Invectiva contra quendam magni status hominem sed nullius scientie aut virtutis, n. 18 und 20, in: Invectives, ed. and transl. by David Marsh (The I Tatti Renaissance Library, 11), Cambridge, MA/London: Harvard University Press, 2003, 196-198: „Ingenium Deus dat […] Non dat fortuna mores bonos, non ingenium, non virtutem, non facundiam.“

[49] Petrarca, Fam. XXIV, 2, 2 ff., hg. v. Vittorio Rossi / Umberto Bosco, Firenze: G.C. Sansoni, 1942, XIII, 222.28-223.37: „[…] contigit ut dum in Cicerone, velut in homine michi super omnes amicissimo et colendissimo, prope omnia placerent, dumque auream illam eloquentiam et celeste ingenium admirarer, morum levitatem multisque michi deprehensam indiciis inconstantiam non laudarem. […] res poscere visa est ut codex epystolarum mearum ex archula promeretur.“ Ebd., 223.60-: „Quesivi igitur an deum fuisse Tullium opinaretur an hominem; incunctanter ‚deum‘ ille respondit […]. ‚Recte‘, inquam, ‚nam si deus est, errasse non potuit; illum tamen deum dici nondum audieram […]‘. ‚Ludo‘ inquit ille; ‚hominem sed divino ingenio fuisse Tullium scio‘. ‚Hoc‘ inquam, ‚utique rectius; nam celestem Quintilianus in dicendo virum dixit; sed si homo fuit, et errasse profecto potuit et erravit‘.“ (Meine Hervorhebungen) Hinweis bei Alexandru Cizek, Ingenium et mores Ciceronis: Zum Bild Ciceros im mittellateinischen Schrifttum, in: Atti del XIII Colloquium Tullianum, Milano 27-29 marzo 2008 = Ciceroniana. Nuova Serie 13 (2009), 141-165, hier 156 mit Anm. 67 und 69. Lob des ciceronianischen ingenium auch in Rerum memorandarum libri, II, 17, hg. v. G. Billanovich, Firenze: G.C. Sansoni, 1943, 52-54; Cizek, Ingenium et mores, 162 mit Anm. 97.

[50] Petrarca, Africa, IX, 18-19, lt.-dt., hg. u. übers. v. B. Huß / G. Regn, Mainz: Dieterich‘sche Verlagsbuchhandlung, 2007, 634: „[…] summus Apollo / Ingenium celeste dedit […]“ (für diesen Hinweis bin ich Sabrina Ebbersmeyer dankbar). Sh. auch Marjorie O’Rourke Boyle, Petrarch’s Genius: Pentimento and Prophecy, Berkeley/Los Angeles/Oxford: University of California Press, 1991, 24. URL: <http://ark.cdlib.org/ark:/13030/ft167nb0qn/&gt;.

[51] So fasst es exemplarisch im 12. Jahrhundert Bernardus Silvestris auf. Ingenium wird dort als Instrument des Findens/Erfindens (instrumentum inveniendi) verstanden, das neben ratio und memoria die Weisheit (sapientia) vervollkommnet. Bernardus Silvestris, Commentum super sex libros Eneidos Virgilii, hg. v. Wilhelm Riedel, Greifswald 1924, 46f.: „Sapientia in medio cerebri sedem habet, tria namque sunt quae sapientiam perfectam reddunt, ingenium instrumentum inveniendi, ratio instrumentum discernendi inventa, memoria instrumentum conservandi. In cerebro autem tres sunt cellulae quas alii ventriculas vocant […].“

[52] Gerl, Einführung in die Philosophie der Renaissance, 156: „Um dieses veränderte Bewußtsein des Menschen von sich selbst philosophisch genauer zu fassen, wird jene besondere geistige Fähigkeit, für die eben der Terminus ‚ingenium‘ steht, Angelpunkt des Bezuges zur Wirklichkeit. Es ist nicht mehr identisch mit der spekulativen Kraft des Intellekts im Wortsinn, also mit der reinen und sozusagen indifferenten Spiegelung vorgegebener Entitäten. Die Renaissance artikuliert das Ingenium als eine dem Intellekt und sogar dem Willen vorgeordnete Fähigkeit (womit sich auch die lange anstehende Frage nach dem Primat des Intellekts oder des Willens erübrigt). Vielmehr ist Ingenium als eigenstes Vermögen des Menschen der rationalen wie der emotionalen Motivation entzogen: es ist unklassifizierbar, nicht zu begründender und auch nicht abgeleiteter Grund des Menschen.“ Diese Stelle wird allerdings von Verfasserin nicht mit Quellen belegt. Sh. auch H. Weinrich, Art. Ingenium, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, 360-363. Die Positionierung des ingenium vor Verstand bzw. Vernunft und als Herrscher (princeps) und damit Urteilsfinder findet sich z. B. bei Julius Caesar Scaliger, aber auch bei Juan Luis Vives; Thomas Leinkauf, Art. Vernunft-Verstand. IV. Renaissance und frühe Neuzeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001, 796-809, hier 798-799.

[53] Baxandall, Giotto and the Orators, 15: „… ingenium, for example, was particularly associated with invention, ars more with style“. Für Humanisten, so Baxandall (ebd., 16), waren aber beide Termini komplementär, man sollte also sowohl ars und ingenium, ars et ingenium, haben. Siehe auch Francesco Tateo, „Retorica“ e „poetica“ fra Medioevo e Rinascimento, Bari: Adriatica editrice, Roma 1960, 82-92. Dennis L. Sepper, Descartes’s Imagination. Proportion, Images, and the Activity of Thinking, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1996, 89: „The word [ingenium, TJ] had a programmatic importance for Italian Renaissance humanists, as the human power of understanding and invention that in its flexibility and adaptability underlies the effective use of words and that contrasts with a reason (ratio) that deals with the eternal and thus transcends all things specifically human.“

[54] De remediis, hg. v. Schottlaender, 190/191.

[55] Hierzu z. B. Alfons Reckermann, Das Konzept kreativer imitatio im Kontext der Renaissance-Kunsttheorie, in: Walter Haug / Burghart Wachinger (Hg.), Innovation und Originalität (Fortuna vitrea 9), Tübingen: Max Niemeyer, 1993, 98-132, hier 117.

[56] Fam. IV, 1, 11, hg. v. Rossi, I, 155.86-87: „… sed ingenio humano rerum natura non tollitur, nec fieri potest ut corporeum aliquid ad alta descendendo perveniat“. Das ist aus dem berühmten Brief an Dionigi da Borgo San Sepolcro, in dem Petrarca über seine Besteigung des Mont Ventoux berichtet. Familiaria. Bücher der Vertraulichkeiten. Herausgegeben von Berthe Widmer. Mit einem Geleitwort von Kurt Flasch, 2 Bde., Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2005, hier Bd. 1, 182.

[57] Reckermann, Das Konzept kreativer imitatio, 117.

[58] Das heißt aber eben nicht, dass ingenium mit Praxis bzw. (Handwerks-)Kunst gleichzusetzen ist, da eben die noch regelgeleitet ist. Später, bei Leon B. Alberti z. B., ist dem ingenium inventoris der faber entgegen gesetzt, also derjenige, der das Erdachte praktisch und nach den Regeln des Handwerks ausführt. Vgl. Ulrich Pfisterer, Ingenium und Invention bei Filarete, in: Bruno Klein / Harald Wolter von-dem-Knesebeck (Hg.), Nobilis arte manus. FS für Antje Middeldorf Kosegarten, Dresden/Kassel: B. Klein, 2002, 265-289, hier 273 mit Verweis auf L.B. Alberti, L’Architettura [De re aedificatoria]. Testo latino e traduzione a cura di Giovanni Orlandi. Introduzione e note di Paolo Portoghesi, Mailand: Il Polifilio, 1966, I, 99 und II, 529 (Anm. 37). Da befinden wir uns aber bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts.

[59] Walter Haug, Francesco Petrarca – Nicolaus Cusanus – Thüring von Ringoltingen. Drei Problemstücke zu einer Geschichte der Individualität im 14./15. Jahrhundert, in: Manfred Frank / Anselm Haverkamp (Hg.), Individualität (Poetik und Hermeneutik, XIII), München: Wilhelm Fink, 1988, 291-324, hier 300-301.

[60] Hugo Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt a. Main: Vittorio Klostermann, 1964, 172, meint sogar: „Imitieren ist das Gesetz seines [i.e. Petrarcas, TJ] literarischen Verhaltens.“ – und bezieht das explizit auf Petrarcas Imitieren der klassisch römischen Schriftsteller (Cicero, Seneca; Vergil, Horaz), aber auch christlicher Autoren (Laktanz, Augustin).

[61] In diesem Sinne, so macht Haug (Francesco Petrarca – Nicolaus Cusanus – Thüring von Ringoltingen, 300) ebenfalls deutlich, passt das traditionelle Bienengleichnis, auf das Petrarca selbst sich beruft (Fam. XXII, 2, 16, hg. v. Rossi, IV, 106.97-100, Brief an Giovanni da Certaldo; Fam. I, 8, hg. v. Rossi, I, 39-44 [ins. § 2], Brief an Tommaso Caloria di Messina), eigentlich nicht recht auf seine Position: „So wie die Biene aus vielen Blüten Nektar oder Blütenstaub zusammentrage, um daraus etwas Eigenes zu schaffen, so solle der Dichter das Fremde in etwas Anderes, Besseres verwandeln: ‚in aliud et melius convertere‘.“ Das Bienengleichnis geht deshalb nicht auf, weil die Biene ja aus einem Produkt ein anderes macht. Bei Petrarca ist aber die Art und Weise, wie dies geschieht, anzueignen, sodass also nicht nur ein anderer Produktionsmodus zustande kommt, sondern entsprechend auch ein anderes Produkt. Zum Bienengleichnis vgl. auch: Jürgen von Stackelberg, Das Bienengleichnis – Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio, in: Romanische Forschungen 68 (1956), 271-293, insb. 281ff.; zu klassischen Positionen des Gleichnisses auch Dina De Rentiis, Der Beitrag der Bienen. Überlegungen zum Bienengleichnis bei Seneca und Macrobius, in: Rheinisches Museum für Philologie 141 (1998), 30-44. Sh. auch Andreas Kablitz, Nachahmung und Wahrheitsanspruch. Seneca – Petrarca – Montaigne, in: Wolfgang Harms / Jan-Dirk Müller (Hg.), Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, Stuttgart/Leipzig: S. Hirzel, 1997, 95-149.

[62] Haug, Francesco Petrarca – Nicolaus Cusanus – Thüring von Ringoltingen, 301.

[63] Z. B. De sui ipsius et multorum ignorantia. Über seine und vieler anderer Unwissenheit. Übersetzt von Klaus Kubusch. Herausgegeben und eingeleitet von August Buck, lt.-dt., Hamburg: Meiner, 1993, 20/21-24/25 und 104/105-108/109; sh. z. B. auch Invective contra medicum, II, 60, in: Invectives, hg. v. Marsh, 47. Zu Petrarcas Idee, dass wahre Philosophie nur praktisch sein könne, vgl. z. B. Fam. II, 4, 28, hg. v. Rossi, I, 79.200-201; Fam. VI, 2, 16, hg. v. Rossi, II, 58; Fam. X, 5, 11, hg. v. Rossi, II, 313. Hierzu auch Keßler, Petrarca der Philosoph. Allerdings verteidigt Petrarca Aristoteles in De sui ipsius … ignorantia, dass er zwar Philosophie in praktischer Absicht („ut boni fiamus“) betreiben wollte, in der Umsetzung (anders als Cicero und Horaz) aber scheiterte; De sui ipsius … ignorantia, hg. v. Kubusch / Buck, 104/105; Titus Heydenreich, Petrarcas Bekenntnis zur Ignoranz, in: Fritz Schalk (Hg.), Petrarca 1304-1374. Beiträge zu Werk und Wirkung, Frankfurt a. Main: Vittorio Klostermann, 1975, 71-92, hier 74.

[64] Zu Aristoteles’ Ethik im Allgemeinen Richard Kraut, Aristotle’s Ethics, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2016 Edition), URL: http://plato.stanford.edu/archives/spr2016/entries/aristotle-ethics/. Zur Mesotes-Lehre im Speziellen: ebd., 5., URL: http://plato.stanford.edu/entries/aristotle-ethics/#DocMea.

[65] Man könnte sagen, dass bei Aristoteles tatsächlich ein eher theoretischer oder deskriptiver Zugriff auf Ethik besteht. Allerdings ist es durchaus so, dass wenn ich weiß, dass mein Verhalten ein mittleres sein muss und ich die Extreme bestimmen kann, ich durchaus mein Verhalten festlegen, also die aristotelische Ethik praktisch umsetzen kann. Petrarca spricht hier sicherlich einen kritischen Punkt an, überspitzt ihn aber zugleich rhetorisch.

[66] In diesem Sinne stimme ich auch nicht überein mit Jan Cölln, Normativität unter den Bedingungen der Kontingenz. Humanistische Perspektiven auf Fortuna, in: Elke Brüggen, Franz-Josef Holznagel, Sebastian Coxon, Almut Suerbaum (Hg.), Text und Normativität im deutschen Mittelalter: XX. Anglo-German Colloquium, Berlin: De Gruyter 2012, 465-488, hier 482, der zwar die Wichtigkeit des Lesers für den Dialog betont, aber darüber hinaus meint, „dass der implizite Rezipient des Dialoges durch die Fokussierung des Textes auf Petrarcas ratio zum Gebrauch seiner Vernunftbegabtheit aufgerufen wird. Das ohne Argumente töricht wirkende Festhalten der Affekte an ihren Gegenständen zielt genauso wie die Argumentationsvielfalt der Vernunft schon bei Petrarca in didaktischer Absicht auf den Leser.“ Wie angedeutet, machen nicht nur die Affekte einen törichten Eindruck auf den Lesern, sondern immer wieder auch die Vernunft. Was der Leser tatsächlich entscheiden muss, ist, wer von beiden Dialogpartner vor dem ingenium des Lesers „törichter“ ist – und wer die überzeugenderen Einwände hat. Die Fokussierung auf die Ratio entspräche einer ausschließlich stoischen Position, in der ja die Affekte vor allem als „falsche Werturteile“ gesehen werden bzw. abzutöten sind (Ideal der Apathie); dazu Halbig, Die stoische Affektenlehre, 33-41 und 60-68.

[67] Zu Petrarca als Büchersammler bzw. zu seiner Bibliothek auch Marcello Ciccuto, Petrarca e le arti: l’occhio della mente fra i segni del mondo, in: Quaderns d’Italià 11 (2006), 203-221; zu Petrarcas ‚Lieblingsbüchern‘ Horst Rüdiger, Die Wiederentdeckung der antiken Literatur im Zeitalter der Renaissance, in: Herbert Hunger u.a. (Hg.), Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel. Mit einem Vorwort von Martin Bodmer, München: dtv, 1975, 511-576, hier 526-537.

[68] Tatsächlich beschreibt Petrarca in einem Brief an Giovanni dell’Incisa seine Leidenschaft als „inexplebilis cupiditas“ und als eine unersättliche („libris satiari nequeo“). Auch meint er, mehr Bücher zu besitzen als sich eigentlich gehöre („Et habeo plures forte quam oportet …“). Hier wird noch einmal deutlich, dass in Petrarca die Affekte mindestens genauso stark sind wie die Vernunft. Petrarca, Fam. III, 18, 2, hg. v. Rossi, I, 139.11.14-15; Ciccuto, Petrarca e le arti, 209.

[69] Vgl. Anm. 45.

[70] De remediis, hg. v. Schottlaender, 100/101.

[71] Siehe beispielsweise Peter Kuon, Ritual und Selbstinszenierung: Petrarcas Dichterkrönung, URL: <http://www.uni-salzburg.at/fileadmin/oracle_file_imports/1411175.PDF&gt;, Stand: 29.09.2016, S. 1-2.

[72] Auf diesen Zusammenhang verweist auch Stierle, Ein Intellektueller, bes. 224. Die Entdeckung oder Freilegung der Individualität oder des Subjektiven ist das Genuine der Renaissance, wie sie Jacob Burckhardt sieht; Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, 12. Aufl. mit einem Vorwort von Hubert Locher (Kröners Taschenausgabe 53), Stuttgart: Alfred Kröner, 2009, 107-136. Dieser II. Abschnitt des Werks ist daher auch „Entwicklung des Individuums“ überschrieben. Zu einer Bewertung dieser Einschätzung bereits Johan Huizinga, Das Problem der Renaissance. Renaissance und Realismus. Aus dem Niederländischen von Werner Kaegi. Mit einer Einführung von Wessel E. Krul (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, 35), Berlin: Klaus Wagenbach, 1991, 32-36. Siehe auch Haug, Francesco Petrarca – Nicolaus Cusanus – Thüring von Ringoltingen, 291-292.

[73] Damit ist auch die Mesotes-Lehre nicht mehr anwendbar, weil sie ja davon ausgeht, dass es feste Extreme gibt, zu denen die Mitte dann auch wieder feststeht. Wenn die Extreme situations- und subjektabhängig sind, kann die Antwort auf eine moralische Frage nur vom Individuum her beantwortet werden.

[74] De remediis, hg. v. Schottlaender, 154/155-184/185.

[75] Fam. XXII, 13, hg. v. Rossi, IV, 137.36-37: „… nil omnino aliud quam nudum et inane nomen esse Fortunam …“; Übersetzung: Stierle, Ein Intellektueller, 229. Siehe auch Fam. VI, 5, 1, hg. v. Rossi, II, 81.4-7 (an Barbato da Sulmona): „Sepe quidem … de fortuna deque aliis quibusdam loqui soleo ut vulgus, ne in sermone comuni singularis appaream; si seorsum interroger, responsurus fortasse longe aliter.“ Dass Petrarca dabei zeit seines Schaffens unentschieden zwischen der philosophischen und der Bestimmung des Volksglauben schwankte, macht Heitmann, Fortuna und Virtus, z. B. 43-57 deutlich.

[76] Stierle, Petrarca-Studien, 220: „Petrarcas schärfste Waffe im Kampf gegen Fortuna ist ihre nominalistische Entzauberung. Nicht mehr virtus besiegt Fortuna, sondern eine sprachtheoretische Reflexion.“ Bereits Howard R. Patch, The Tradition of the Goddess Fortuna in Medieval Philosophy and Literature, in: Smith College Studies in Modern Languages 3/4 (1922), 179-235, hier 209, meint: „Petrarch, then, annihilates Fortune, and in so doing follows both the Classics and the Church Fathers.“

[77] Stierle, Ein Intellektueller, 227. Ähnlich auch Gerhard Regn, Aufbruch zur Neuzeit: Francesco Petrarca 1304-1374, in: Reiner Speck / Florian Neumann (Hg.), Francesco Petrarca 1304-1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca Petrarchesca Reiner Speck, Köln: Dumont, 2004, 33-77, hier 71.

[78] In Avignon, aber auch anderswo, wird Petrarca mit nominalistischem Gedankengut in Kontakt gekommen sein. An der päpstlichen Kurie macht er z. B. Bekanntschaft mit dem ‚Ockhamisten‘ Richard of Bury; Francesco Bottin, La scienza degli occamisti. La scienza tardo-medievale dalle origini del paradigma nominalista alla rivoluzione scientifica, Rimini: Maggioli, 1982, 278. Petrarca warnt aber in einem Brief an Tommaso Caloria di Messina eindringlich vor der „razza“ der Ockhamisten (ebd., 279; Petrarca, Fam. I, 7, hg. v. Rossi, I, 35.1-13) und kritisiert generell die englischen Logiker (ebd., 281; z. B. hg. v. Rossi, I, 35.57-60: „Quis illas conclusiunculas non rideat, quibus literati homines se simul et alios fatigant, in quibus omnem etatem conterunt, quippe ad alia inutiles, ad hoc ipsum precipue damnosi?“). Vor diesem Hintergrund ist auch das Diktum Stierles zu relativieren, dass es hier um Entzauberung mit nominalistisch-sprachlichen Mitteln geht. Zum Konzept des ‚Ockhamismus‘ (auch in Abgrenzung zum ‚Nominalismus‘) vgl. meinen Art. Ockhamism, in: Marco Sgarbi (Hg.), Encyclopedia of Renaissance Philosophy, Dordrecht u.a.: Springer, 2016, URL: <http://link.springer.com/referencework/10.1007%2F978-3-319-02848-4&gt;.

[79] So Fam. XXII, 14, hg. v. Rossi / Bosco, XIII, 138.5-9. Keßler, Petrarca der Philosoph, 85.

[80] Vgl. Anm. 45, die kursivierte Stelle. So lässt sich auch Petrarcas Antwort an einen jungen Mann lesen, der ihn um eine Einschätzung gebeten hatte, ob er das Jurastudium aufgeben sollte oder nicht. Petrarcas Antwort besteht in einer allgemeinen Anweisung (also einem Algorithmus), der Kriterien zu einer ‚Selbstanalyse‘ beibringt. Erst von daher kann dann eine Entscheidung vorgenommen werden; Fam. XX, 4, hg. v. Rossi / Bosco, XIII, 13-22. Keßler, Petrarca der Philosoph, 88.


Philosophia 15/2017, pp 3-31